Suhrkamp-Lektorin zur Ukraine

Der hunderttausendfach verstärkte Maidan

08:30 Minuten
Frewillige spenden in Iwano-Frankiwsk in der Ukraine Bliut. Im Vordergrund ist eine Frau mit dunklen, langen Haaren zu sehen, die auf einem Sessel liegt. Sie hält einen roten Ball in ihrer Hand zusammendrückt, in ihrer Ellenbeuge hat sie eine Kanüle stecken. im Hintergrund liegen mehr Menschen auf solchen liegen, zudem ist medizinisches Personal im Bild.
Menschen spenden am Tag nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine Blut. Suhrkamp-Autor Serhij Zhadan hob gegenüber seiner Lektorin den Zusammenhalt im Land hervor. © imago images/Ukrinform
Katharina Raabe im Gespräch mit Frank Meyer · 21.03.2022
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Katharina Raabe ist bei Suhrkamp Lektorin für osteuropäische Literatur und steht im Austausch mit ihren Autoren in der Ukraine. Sie hebt hervor, wie vital sich die Gesellschaft zeige, die sich im Maidan 2014 gefunden und seither entwickelt habe.
Die Suhrkamp-Lektorin Katharine Raabe steht in regem Austausch mit ukrainischen Autoren. Manche von ihnen schreiben derzeit Tagebücher, für andere sei an Schreiben nicht zu denken.
„Juri Andruchowytsch sagt, er hat einen Roman angefangen im Januar und mit dem Kriegsbeginn war alles vorbei. Er muss das neu denken, und wenn er etwas schreibt, kann er sich allenfalls vorstellen, dass ihm ein Gedicht in den Kopf kommt." Das müsse ihn aber finden, und die Musen seien jetzt nicht bei ihm.
Dafür habe Andruchowytsch ihr von seiner humanitären Arbeit berichtet, die er mit anderen in seinem Kulturzentrum in Iwano-Frankiwsk leiste. Das Kulturzentrum Vagabondo-Zirkus wurde von Andruchowytsch und Mitstreitern vor drei Jahren gegründet. Jetzt ist es laut Raabes Schilderung ein Ort, an dem Medikamentenlieferungen eingehen, wo Theaterschauspieler kochen und wo im Keller auch ein Luftschutzraum sich befindet.

Wie Fiktion und Realität zusammenkommen

Es werde aber auch noch Theater gemacht: Hamlet wird demnach in einer Andruchowytsch-Übersetzung aufgeführt, Flüchtlinge kommen umsonst hinein in das Kulturzentrum. „Der Vagabondo-Zirkus ist eine Erfindung von ihm in seinem letzten Buch, 'Die Lieblinge der Justiz'“, zieht Raabe die Verbindung zwischen Andruchowytschs Werk und Realität.
Jurij Andruchowytsch bei einer Buchpräsentation in der Ukraine im September 2021.
Jurij Andruchowytsch bei einer Buchpräsentation im Vagabundo-Kulturzentrum.© imago / Ukrinform / Yurii Rylchuk
Und nun würden dort psychotherapeutische Beratungen für Kinder angeboten, Andruchowytsch Tochter gebe Yoga-Kurse, es würden Malkurse angeboten. „Das heißt, der Maidan, der 2014 angefangen hat, hat sich aufs Hunderttausendfache multipliziert – jetzt, in all diesen Orten, wo Künstler, wo Sozialarbeiter, wo Musiker und wo Schriftsteller zu finden sind und sich engagieren“, sagt Raabe.
Auch der Autor Serhij Zhadan harre aus in Charkiw. Er berichte von einem enormen Zusammenhalt, auch er leiste humanitäre Hilfe, erzählt Lektorin Raabe, indem er durch die Stadt fahre, kleine Nachrichten auf Twitter und Facebook poste. "Charkiw ist ein riesiges Freiwilligenzentrum geworden, und wir werden diese Stadt wieder aufbauen", zitiert sie Zhadan. "Wir werden das, was wir angefangen haben, weiter entwickeln."
Diese Nachrichten trage Suhrkamp auch noch mal in die Öffentlichkeit.

Die Maidan-Gesellschaft soll ausgelöscht werden

Raabe schwärmt von der sogenannten Maidan-Gesellschaft, die sich 2014 gezeigt habe: „Der Maidan als Agora; wo man spricht, wo man sich beisteht, wo man sich füreinander interessiert, wo man eine horizontal sich vernetzende Gesellschaft schafft.“
Diese neue Gesellschaft, die damals entstanden sei, werde nun von Russland und von Russlands Präsident Putin und seinen Truppen massiv unter Druck gesetzt und solle ausgelöscht werden, „weil diese Lebensform Ukraine eine Bedrohung für die so genannte russische Welt darstellt."
„Diese selbst organisierte, reife Gesellschaft ist etwas, was sich jetzt als enorm vital erweist“, sagt Raabe bewundernd, und gießt im nächsten Satz reichlich Wasser in den Wein: "Aber den massiven Bombardements oder gar dem Einsatz von Massenvernichtungsmitteln wird auch diese Gesellschaft nichts entgegensetzen können. Sie wird dann untergehen und wird unsere Erinnerung bleiben“, so Raabe und fügt an: „Ich hoffe, dass es so weit niemals kommen wird.“

Der Horror – "um ein Megatonnenhaftes vergrößert"

Allerdings räumt Raabe auch ein, man habe vieles schon vor dem russischen Angriff im Februar wissen können: „Als ich neulich bei einer Lesung gehört habe, wie jemand Zhadans Bibliotheksgedicht vorgelesen hat, dachte ich, wir haben das alles schon gewusst, seit 2014, seit dem Angriff der von Russland gestützten Separatisten in den Donbass-Gebieten, die Zhadan intensiv beschrieben hat."
Da sei alles schon da gewesen. "Nur dass jetzt Bomben fallen, dass jetzt Städte ausgelöscht werden sollen, dass jetzt der ganze Schrecken und der Horror um ein Megatonnenhaftes vergrößert worden ist."
Vor allem in den Büchern von Serhij Zhadan, der im Osten der Ukraine gearbeitet habe, sei all dies schon vorhanden gewesen. „Die Menschen, die diese Bücher jetzt entdecken – es gibt eine große Nachfrage nach diesen Büchern –, nehmen mit Bestürzung wahr, wie viel wir nicht gewusst haben, wie viel wir nicht ernst genommen haben", sagt Raabe.
Die Bücher vermittelten das Gefühl, "was es bedeutet, wenn das Leben von einem Tag auf den anderen unsicher, ungewiss und ungeschützt wird". Die Leute kapierten das erst jetzt, sagt Raabe und räumt zugleich ein: "Wir, die wir an den Büchern dran waren, haben das natürlich schon vorher gesehen, aber wir hätten uns auch nie vorstellen können, dass es so kommt wie jetzt."
(mfu)
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