Krieg in der Ukraine

Bummelstreik im Angriffskrieg

04:32 Minuten
Ein russischer Soldaten besetzen eine ukrainische Kaserne.
Was wäre, wenn die russischen Soldaten wenig engagiert kämpfen würden, fragt sich die Theologin Gesine Palmer. © picture alliance / CITYPRESS24
Ein Kommentar von Gesine Palmer · 10.03.2022
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Die oft nur noch metaphorisch benutzte "Moral der Truppe" kann im Ukraine-Krieg von entscheidender Bedeutung sein, meint die Autorin Gesine Palmer. Gerade für diejenigen, die den Angriff führen müssen, ohne ihn zu billigen.
Als im letzten Sommer die westlichen Truppen aus Afghanistan abzogen, war hierzulande die Frustration groß. Die afghanische Armee, seit 20 Jahren von den Truppen der reichsten Länder dieser Erde ausgestattet und ausgebildet, gab innerhalb kürzester Zeit ihren Widerstand gegen die Taliban auf – und entgeisterte Fernsehzuschauer:innen in Deutschland sahen siegreiche Wüstenkämpfer mit langen Bärten auf staubigen Motorrädern in die Städte knattern.
Peinlich berührt stellten wir fest, dass wir wohlorganisierten Westweltler nicht einmal imstande waren, alle fortan von der Rache der Islamisten bedrohten Ortskräfte zu evakuieren. Was zählte, war offenbar die sogenannte Moral, und davon hatten die Taliban in ihrem ganzen brutalen Eifer gegen alles, was uns Demokrat:innen teuer ist, jede Menge. Die von gutgläubigen Westarmeen trainierten Soldat:innen der Regierungstruppen hingegen so gut wie nichts.

Ratlosigkeit in Afghanistan

Diese schienen vielmehr geradezu in einem Bummelstreik zu sein. Sie schienen zu schlendern, statt zu marschieren, durcheinanderzulaufen, statt koordiniert zu agieren – und vor allem bei der erstbesten Gelegenheit mit all ihren schönen, von uns bereitgestellten Waffen zum Feind überzulaufen.

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Man mochte es ihnen nicht verdenken. Wer weiß, wie wir handeln würden in ihrer Situation? Umso ratloser blieben wir davor. Beeindruckt von den Siegern entwickelten sich manche kruden Hoffnungen: Vielleicht müsse man es mit den Rechten der Frauen nicht gar so westlich genau nehmen, man habe dort eben andere Werte – wenn es auch die Taliban ein bisschen übertrieben mit ihrer Gewalt? Vielleicht wären die Gotteskrieger durch ihren Sieg ein bisschen verändert? Vielleicht würden sie an ihrer Verantwortung für das eroberte Land nun wachsen?
Aber selbst wenn man die Realität aggressiv gewalttätiger Menschen und Organisationen anerkennen und immer irgendeine Verhandlungsoption offenhalten sollte: Muss man deswegen den Widerstand gegen gewalttätiges Unrecht einfach aufgeben, wenn auch nur in Gedanken? Ich habe das nie geglaubt – und blieb wie viele andere ziemlich fassungslos.

Subversion im Angriffskrieg

Ein gutes halbes Jahr später könnte nun eine andere große Armee scheitern – diesmal an der Moral des ukrainischen Volks, das verzweifelt den Anschluss an den Westen sucht. Diesmal würde es uns wohl alle freuen, wenn die desorientierten russischen Soldaten schlendern, statt marschieren, durcheinanderlaufen statt koordiniert agieren und bei der erstbesten Gelegenheit mit all ihren schönen russischen Waffen zum ukrainischen Feind überlaufen würden.
Denn die russischen Truppen würden sich solcher Verhaltensweisen der Subversion nicht in einem Verteidigungskrieg, sondern in einem Angriffskrieg bedienen. Und diesem wären sie auch angemessen. Dass sie das tun, ist freilich schwer überprüfbar. Und wer könnte sich über einen dadurch noch mehr frustrierten Kreml freuen, solange die Größe der Frustration des Kremlherren nur immer massivere Angriffsbefehle und schließlich auch den Einsatz von Atomwaffen zur Folge haben kann? 

Nur ein Wunder kann uns retten

Westlicherseits haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten angewöhnt, Seelen und ihre Moralen selbst für berechenbar zu halten. Ja, es empört uns geradezu, wenn jemand nicht berechenbar erscheint. Aber natürlich ist jede Seele unberechenbar.
Und das ist zurzeit sogar unsere einzige Hoffnung: Auf der Basis unserer Berechnungen müssen wir alles tun, was wir können, um Putins aggressiver Großmachtpolitik eine harte Grenze zu setzen. Aber selbst, wenn die Ukrainer sich überraschend effizient verteidigen, selbst, wenn wir dem kühnsten Vorschlag folgten, der bisher auf dem Tisch liegt, und allen russischen Deserteuren sofortiges Asyl anböten und damit die russische Armee gewaltfrei dezimierten: Es würde Putins Finger nicht in sichere Distanz zum Befehl über die Atomwaffen bringen. Nur ein Wunder kann uns retten. Dieses muss in Putins eigener Moral stattfinden.

Gesine Palmer, geboren 1960 in Schleswig-Holstein, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das „Büro für besondere Texte“ und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihre wiederkehrenden Themen sind Religion, Psychologie und Ethik – im Kleinen der menschlichen Beziehungen wie im Großen der Politik.

© Gaëlle de Radiguès
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