Ukraine

"Harte Ansprüche an die Politiker"

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Ukrainer demonstrieren in Kiew für einen EU-Beitritt ihres Landes. © dpa / picture alliance / Andrey Stenin
Juri Andruchowytsch im Gespräch mit Ulrike Timm · 05.12.2013
Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch sieht in den Demonstrationen in seinem Land eine Art Fortsetzung der Aufbruchstimmung aus der Zeit der Orangenen Revolution. Die jetzigen Proteste seien eine "weitere Phase auf unserem Weg nach Europa".
Ulrike Timm: Hunderttausende Ukrainer kämpfen für einen prowestlichen Kurs ihres Landes. Immer mehr Gewalt soll sie einschüchtern, aber trotzdem bleiben viele Menschen auch nachts auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, bei Regen und bei Schnee. Gestern Abend hatten sie Besuch von Bundesaußenminister Westerwelle, der auf seiner letzten Auslandsreise sagte, er sei als Europäer zu Europäern gekommen. Unter massivem Druck Russlands hatte die ukrainische Regierung vor knapp zwei Wochen ein unterschriftsreifes Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union gestoppt. Die Ukrainer, die auf die Straße gehen und den Rücktritt der Regierung verlangen, fühlen sich als Menschen, die um ihre Freiheit kämpfen. Wir sprechen jetzt mit Juri Andruchowytsch, er ist eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen seines Landes. Bekannt wurden vor allem sein Roman "Zwölf Ringe" und der Essayband "Engel und Dämonen der Peripherie". Herr Andruchowytsch, schönen guten Tag!
Juri Andruchowytsch: Guten Tag!
Timm: Wie hilfreich ist ein scheidender deutscher Außenminister, der die Demonstranten besucht?
Andruchowytsch: Ich denke, es geht vor allem nicht, ob er scheidend ist oder nicht, ich denke, das ist für die Teilnehmer des Maidans, für die Protestierenden viel wichtiger zu wissen, dass er seine Solidarität mit uns geäußert hat, als solche Details, dass er gleich schon nicht mehr ein Minister wird und so weiter. Das ist für die Ukrainer gar nicht so wichtig.
Timm: Wie erleben Sie die Situation auf diesem Platz, als Schriftsteller und als Ukrainer, der nach Europa möchte?
"Die Leute funktionieren, als ob sie Schweizer wären"
Andruchowytsch: Vor allem ist das eine komplizierte Mischung von Gefühlen. Ich bin natürlich ein bisschen wie vor neun Jahren, im Jahr 2004. Die Hauptzüge sind ziemlich ähnlich. Wenn Sie zum Beispiel spät am Abend diesen Ort besuchen, dann können Sie sehen, diese gesellschaftlichen Mechanismen von Selbstorganisation, wie sie dort wunderbar funktionieren – Wasserversorgung, Essen, Konzerte auf der Bühne, Gespräche, Diskussionen unter den Leuten. Die Schriftsteller lesen ihre Texte und so weiter und so fort. Das ist so ein Modell für die gut funktionierende Gesellschaft, die mich ganz wenig eigentlich an die Ukraine erinnert, muss ich sagen. Normalerweise sind die Ukrainer, finde ich, chaotisch und schlecht organisiert. Und jetzt funktionieren die Leute dort, als ob die Schweizer wären oder so was. Also das kann man nicht unterschätzen. Diese Leute, die sind dort massenhaft, die bleiben dort nachts und tags, und ich denke, ohne ihre Ziele zu erreichen, werden sie vom Maidan nicht gehen.
Timm: Es sind ja viele junge Menschen dabei, die in die Ukraine als unabhängigen Staat hineingeboren wurden. 2004, bei der Orangenen Revolution waren die eigentlich einfach noch zu klein für Politik. Sind die jetzt die tragende Schicht, oder doch die Älteren, die sich an Sowjetzeiten erinnern?
Andruchowytsch: Am Anfang der Proteste, das bedeutet, noch nachdem die ukrainische Regierung auf das Abkommen mit der EU verzichtet hat, waren das eher die Studenten, 90 Prozent, kann ich einschätzen. Jetzt gibt es dort schon verschiedene Generationen, aber die Studenten sind immer noch sehr aktiv. Sie protestieren nicht nur auf dem Maidan, sie protestieren an ihren Universitäten. Die Studenten von Kiew haben so eine Manifestation zu ihrem Bildungsministerium organisiert mit so einer Petition, mit einer Mission, dass es an den Unis keine Repressalien gegen die Studenten-Aktivisten fortführen werden. Und sie nehmen auch teil bei verschiedensten Aktionen, zum Beispiel zur Befreiung der Leute, die vor ein paar Tagen von der Polizei – bei uns heißt die Miliz – verhaftet wurden und sofort zu zwei Monaten Verhaftung verurteilt. Das war auch eine ganz massenhafte Prozession mit 15.000 Leuten, und die Mehrheit dort waren die Jugendlichen. Die Jugendlichen sind für die europäischen Werte und für die Ukraine in Europa.
"Es gibt keinen Ort im ganzen Land, wo man nichts über die Lage in Kiew weiß"
Timm: Sie beschreiben jetzt die hoffnungsvolle Seite dieses Schubes. Andererseits, der Osten der Ukraine stützt ja nach wie vor die Regierung Janukowitsch, und auch der Misstrauensantrag der Opposition im Parlament ist gescheitert. Wie stark ist dieser Schub, den Sie beschreiben, tatsächlich?
Andruchowytsch: Das ist natürlich wieder wie im Jahr 2004, dass die östlichsten Regionen des Landes und zum Teil die südlichen Regionen sozusagen die Basis für den heutigen Präsidenten und für seine Partei, dass sie auch dort ihre Unterstützungsaktionen organisieren. Sie sind auch zum Teil schon hier in der Hauptstadt, in Kiew vertreten, aber die Leute sind nicht so selbstständig in ihren Meinungen. Sie sagen zum Beispiel ab, wenn die Journalisten ihnen näher kommen und fragen wollen, wofür sie hier stehen, und sie bevorzugen, zu schweigen. Das bedeutet für mich, dass diese Leute eigentlich entweder für das Geld oder zwangsweise an solchen Aktionen teilnehmen. Sie haben keine starke Überzeugung, dass sie diese heutige Macht wirklich unterstützen sollen. Und ich denke, diese Änderung im Denken der Ukrainer wird auch dort, in dieser Region, viel, viel sichtbarer.
Timm: Wir hören, dass Journalisten angegriffen werden, und dass die Medien gleichgeschaltet sind. Die Ukraine ist ein Riesenland – was wissen denn die Ukrainer jenseits von Kiew über die Auseinandersetzungen dort?
Andruchowytsch: Ich glaube, sie wissen genug. Wenn Sie über die Medien sprechen, da gibt es natürlich viel weniger Informationen, im Fernsehen besonders, auf den Kanälen, die von der Regierung, von der Macht kontrolliert werden. Aber es gibt auch unabhängiges Fernsehen. Es gibt vor allem das Internet. Und ich denke, es gibt keinen Ort im ganzen Land, wo man jetzt wenig weiß oder nichts über die Lage in Kiew.
Timm: Wir sprechen mit dem ukrainischen Schriftsteller Juri Andruchowytsch über die aufgewühlte Lage in seinem Land. Herr Andruchowytsch, man hört aus verschiedensten Quellen, dass die Gewalt bei der blutigen Großkundgebung auf dem Maidan von Kiew ausging von als Zivilisten verkleideten Polizisten, die so den Sicherheitskräften Vorwände lieferten fürs Niederknüppeln. Und in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ heißt es heute dazu, das ist klassischer russischer Stil. Hat dieser klassische russische Stil die Ukraine gelähmt in den letzten Jahren?
Andruchowytsch: Das ist eine Tendenz, die sehr gefährlich ist. Das ist natürlich einer der größten motivierenden Faktoren für so massenhafte Proteste. Nachdem dieser klassische russische Stil in der Nacht von Freitag auf Samstag verwendet wurde, hat die Macht vielleicht erwartet, dass die Leute total verschüchtert, schockiert und paralysiert zu Hause bleiben. Das war der größte Fehler, dass sie immer ihre Leute, also die Ukrainer, so einschätzen, als ob sie in Weißrussland oder in Russland waren. Das sind die Leute, die für ihre Menschenrechte, für ihre menschliche Würde sofort kämpfen, wenn sie das ganz klar spüren, wie gefährlich jetzt diese Wende zur Diktatur aussieht. Schon am Sonntag anderthalb Millionen Leute auf den Straßen von Kiew. So eine große Manifestation gab es in Kiew noch nie in der ganzen Geschichte. Das zeigte sehr klar, dass dieses russische Modell beziehungsweise russischer Stil hier bei uns keinen Erfolg haben wird.
"Ich bin leider wütend, aber zum Glück hoffnungsvoll"
Timm: Ich hab noch mal in Ihren Essayband "Mein Europa" geschaut, erschienen zurzeit der Orangenen Revolution von 2004, ist es ein feuilletonistisches Reisebuch, und da herrscht ein gewitzter, ein skeptischer, aber im Ganzen ein optimistischer Ton. Nun hat die Ukraine Jahre der politischen Lähmung hinter sich. Hoffen Sie tatsächlich auf eine zweite Orangene Revolution?
Andruchowytsch: Nein, das wäre ein Fehler, das so zu bezeichnen. Das ist die weitere Phase, kann ich sagen, auf unserem Weg nach Europa. Eigentlich ist die heutige Stimmung mehr revolutionär als damals. Die Orangene Revolution war eigentlich, finde ich, naiv. Jetzt sieht alles viel, viel pragmatischer, viel skeptischer – die Leute, die Auftritte der Politiker auf der Bühne hören, die sind nicht so leichtsinnig und vertrauensvoll. Die sind auch kritisch. Die haben ihre harten Ansprüche an die Politiker, auch an die oppositionellen Politiker natürlich. Und ich hoffe, dass das ein richtiger Anfang von gesellschaftlicher Kontrolle der Politiker wird. Das, was wir natürlich noch damals, 2004, brauchten, und das, was der Mangel von solcher gesellschaftlicher Kontrolle eine der Ursachen war, dass die Orangene Revolution ja gescheitert ist. Obwohl, heute kann ich sagen, warum gescheitert. Das, was wir jetzt sehen, das sind auch die positiven Folgen. Das ist auch zum Teil diese Erfahrung von Manifestierenden, die heute in ihrer Arbeit sehr viel hilft.
Timm: Herr Andruchowytsch, Ihre Schriftstellerkollegin, Sibylle Lewitscharow, hat sie mal einen "glühenden Europäer, der sein Land aus dem Elend gerettet sehen will" genannt, und diesen glühenden Europäer, den haben wir in den vergangenen Minuten natürlich auch gehört. Wenn ich Ihnen zum Schluss noch eine persönliche Frage stellen darf: Wenn Sie sich ein bisschen einsortieren sollten zwischen wütend, traurig und hoffnungsvoll – wo würden Sie sich da sehen?
Andruchowytsch: Leider wütend, aber zum Glück hoffnungsvoll.
Timm: Juri Andruchowytsch, der ukrainische Schriftsteller. Herzlichen Dank fürs Gespräch und alles Gute!
Andruchowytsch: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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