Krieg in der Ukraine

Was Flüchtlingen hilft, ist nicht unbedingt gut für ihr Land

04:45 Minuten
Ein Mädchen schiebt einen Kinderwagen, ein anderes läuft neben ihr her. Ihnen folgt eine Frau, die mehrere Tasche trägt. Im Hintergrund ist eine Grenzanlage zu sehen.
Geflohen vor dem russischen Aggressor: Millionen Ukrainer leben inzwischen im Ausland. © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Ein Kommentar von Markus Ziener · 07.12.2023
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Ukrainische Flüchtlinge erhalten in Deutschland viel Unterstützung: Sie beziehen von Anfang an Bürgergeld und haben Zugang zur Krankenversicherung. Aber welchen Folgen hat das für ihr Land? Markus Ziener ist nachdenklich geworden.
Die Ukraine geht in den zweiten Kriegswinter und das Bild, das sich zeigt, ist sowohl ermutigend wie bedrückend. Ermutigend, weil der Wille, eine eigene ukrainische Zukunft besitzen zu wollen, so sehr spürbar ist. Wo irgendwie möglich, werden russische Zerstörungen in Windeseile behoben, werden Fabriken wiederaufgebaut, Wohnungen instand gesetzt und Einschlaglöcher zugeschüttet. In Tschernihiw, zwei Autostunden nördlich von Kiew, zeigt mir der Chef einer Textilfabrik, wie er das nach einem Raketeneinschlag völlig beschädigte Dach seines Unternehmens repariert hat und er dort heute wieder Kleidung schneidern und nähen lässt. In Irpin und Butscha, Vororte von Kiew, die mit sinnloser Zerstörung und brutalsten Massakern verbunden sind, muss man inzwischen die Plätze suchen, die noch an die Gewaltorgie erinnern.

Die Ukraine blutet kontinuierlich aus

Doch es gibt auch eine andere Seite: Nach bald 22 Monaten Krieg blutet die Ukraine kontinuierlich aus. Es fehlt dem Land an Menschen. Nicht nur an Menschen, die in den Krieg ziehen, sondern noch viel mehr an Menschen, die anpacken können. Der Firmenchef in Tschernihiw möchte gern mehr produzieren, aber kann nicht, weil ihm die Leute fehlen. Die Leiterin der staatlichen Agentur für den öffentlichen Dienst möchte gerne mehr Mitarbeiter zur Unterstützung in die Regionen schicken, aber es gelingt nicht, weil sie Tausende Leute verloren hat. Die sind entweder geflohen oder an der Front. Und so ist es auch an vielen anderen Stellen, in Speditionen, Krankenhäusern oder Hochschulen.  

Millionen Ukrainer leben im Ausland

Vor dem Krieg hatte das Land über 40 Millionen Einwohner, heute gerade mal noch rund 32. Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer leben im Ausland, permanent oder temporär. Und so lange sich der Krieg fortsetzt, ist es unwahrscheinlich, dass sie wieder zurückkommen. Weil sie nicht in ein Land gehen wollen, das keine Sicherheit garantieren kann. Und weil sie sich nach bald zwei Jahren in ihrer neuen Heimat eingerichtet haben. Vor allem Mütter mit Kindern haben gerade in Polen, Deutschland und der Tschechischen Republik ein neues Zuhause gefunden.
Für Deutschland war es selbstverständlich, den Geflüchteten großzügig Aufnahme anzubieten: Frauen und Kinder sollen nicht im Krieg leben müssen, sie sollen in Sicherheit sein können. Zur Wahrheit gehört aber auch: Natürlich sucht gerade auch der deutsche Arbeitsmarkt händeringend nach Menschen, die gut ausgebildet sind. Und das sind sehr viele der Geflüchteten. 

Die Furcht, dass immer mehr Menschen gehen

In der Ukraine betrachtet man diese Großzügigkeit allerdings mit gemischten Gefühlen. Wer mit Vertretern der ukrainischen Regierung oder von Sozialverbänden spricht, der hört vor allem eine Bitte an den Westen: „Übertreibt es nicht mit den Zahlungen an Geflüchtete. Je mehr ihr gebt, desto geringer ist die Chance, dass unsere Leute wiederkommen.“ Die Furcht ist deshalb groß, dass noch mehr Ukrainer ihrer Heimat den Rücken kehren könnten. „Wir müssen uns jetzt vor allem darauf konzentrieren, jene zu halten, die noch hier sind“, heißt es aus Regierungskreisen.
Wie sehr Geld und Sozialleistungen dabei eine Rolle spielen, ist in Polen zu beobachten. Seitdem Warschau angekündigt hat, die Leistungen für Geflüchtete aus der Ukraine zu kürzen, sind Hunderttausende weitergezogen, westwärts, sehr viele nach Deutschland. Anders als noch im ersten Jahr nach Kriegsbeginn leben hier inzwischen deutlich mehr ukrainische Flüchtlinge als bei den polnischen Nachbarn.

Wiederaufbau im Interesse Deutschlands

Helfen wir tatsächlich der Ukraine am meisten, indem wir es den Geflüchteten besonders leicht machen, hierzubleiben? Wäre es nicht viel mehr eine Hilfe, wenn wir die Ukrainerinnen und Ukrainer heute darauf vorbereiten, wieder zurückzukehren, damit sie beim Wiederaufbau ihres Landes mithelfen? Denn bei allem Wettbewerb um Arbeitskräfte: Es ist im deutschen Interesse, dass die Ukraine eines Tages wieder aus sich selbst heraus existieren kann. Und nicht, dass sie ausblutet und auf ewig auf Geldflüsse aus dem Westen angewiesen ist.

Markus Ziener ist Autor, Journalist und Hochschulprofessor in Berlin. Er war Korrespondent in Moskau und Washington und berichtete mehrere Jahre aus dem Mittleren Osten.

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