Ufa-Fabrik in Berlin

Die Gute-Laune-Botschafter von Tempelhof

10:54 Minuten
Ein Mann spielt Gitarre und eine Frau spielt Geige. Zwischen den beiden steht ein Mann, der nach rechts guckt. Alle tragen Siebzigerjahre Outfits.
Zusammen leben, zusammen arbeiten, zusammen Spaß haben: Das war von Anfang an das Konzept der Ufa-Fabrik. © M. Peters
Von Claudia van Laak · 06.06.2019
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1979 besetzten junge Leute ein leer stehendes Gelände im Süden von West-Berlin: das stillgelegte Kopierwerk der Filmfirma Ufa. Es entstand ein kulturell-bunter und vielfältiger Ort, der nun - 40 Jahre später - seinen ersten Generationswechsel erlebt.
"Viktoria, der Sieg ist da, die Freaks, die singen trallala!" Sie besingen die Besetzung des Ufa-Geländes in der Viktoriastraße, die drei Tornados, eine anarchistische Westberliner Kabarett-Truppe, gegründet von Arnulf Rating.
"Das Konzept war von Anfang an: Zusammen leben, zusammen arbeiten, zusammen Spaß haben. Ein Haufen von jungen Unternehmern, Kibbuz, Kommune. Wie man das nennen will, so passt das. Eine kleine Oase, hier in Tempelhof. Es hat eine schöne Energie, einen schönen Geist. Sehr frei. Ich wollte auf keinen Fall ein normales Leben führen, irgendwo im Betrieb 40 Jahre absitzen. Also es ist keine Familie im Blut, aber wir leben hier wie eine Familie. Das geht nur mit Freundschaft und Liebe."

Juppy als Aushängeschild der Ufa-Fabrik

"Das geht nur mit Freundschaft und Liebe." Das ist ein Juppy-Satz. Juppy - das Aushängeschild der Ufa-Fabrik. Lang und dürr, immer ein schwarzer Hut auf den langen Haaren, die inzwischen weiß sind. Der jetzige Hut ist so abgegriffen und speckig, er könnte genauso alt sein wie die Ufa-Fabrik selber. Wir sind vor 40 Jahren gekommen, um zu bleiben, sagt Juppy.
"Also wir haben vom ersten Tag an nichts mit Tesafilm angeklebt. Sondern, wenn, dann gleich anständig fest angeschraubt, damit es richtig hält. Denn das ist ja keine Perspektive für ein, zwei, fünf Jahre. Das ist eine Perspektive von mindestens 300 Jahren."

Lebensgemeinschaft, Arbeitgeber, Schule

Die Ufa-Fabrik ist heute vieles gleichzeitig: Lebensgemeinschaft für 35 Menschen, Arbeitgeber für 200. Eine freie Schule, ein Kinderbauernhof, eine Vollkornbäckerei, ein Nachbarschaftszentrum, ein Forschungs- und Lernort für die Energiewende, eine Zirkusschule, und, und, und.
Menschen sitzen vor einem Café.
"Wie eine Familie", so verstehen sich die Mitglieder der Ufa-Fabrik. Das Foto ist aus den 1980er Jahren.© dpa
Juppy – eigentlich Josef Becher – sitzt wie so oft draußen im Café, schenkt einem Mädchen ein Eis, hält einen Schwatz mit der Nachbarin. Er ist die gute Seele des Projekts, Impresario des Ufa-Zirkus, Gute-Laune-Botschafter und inzwischen 70 Jahre alt. Einsamkeit im Alter? Nichts klingt in Juppys Ohren absurder als das. Um ein Altersheim muss er sich nicht kümmern, er hat ja seine Lebensgemeinschaft: "Wenn das nicht wäre, wäre ja was falsch."
"Fabrik für Kultur, Sport und Handwerk" nennt sich die Lebensgemeinschaft ursprünglich. Die zwei Etagen in Berlin-Schöneberg werden ihnen zu klein, die Kommunarden schwärmen aus, entdecken irgendwann in Tempelhof ein heruntergekommenes Fabrikgelände.
"Es war ja ein Kopierwerk der Ufa. Und die Filmindustrie, die war in den 70er Jahren in Deutschland nicht mehr wichtig. Das Kopierwerk wurde nicht mehr gebraucht, weil das Fernsehen so wichtig wurde. Und die Gebäude waren leer", erzählt Siegrid Niemer, genau wie Juppy Kommunardin der ersten Stunde.

Kein Kino, kein Theater, keine Kneipenszene

Berlin-Tempelhof ist zu dieser Zeit kulturelles Niemandsland. Kein Kino, kein Theater, keine Kneipenszene. Kreuzberg hätte ihnen besser gefallen, aber das große Gelände an der Viktoriastraße bietet viel Platz für ihre Träume. Am 9. Juni 1979 nehmen sie das Gelände "friedlich in Besitz". "Besetzung" wollen sie es nicht nennen, das klingt ihnen zu militärisch. Heute hängt am Eingangsgebäude ein blau emailliertes Schild mit der Aufschrift "Straße des 9. Juni."
Ein Auto fährt mit einem Plakat auf dem "Fabrik Circus" stht über die Straße. Auf dem Auto und daneben laufen Menschen.
1979: Die Besetzer der Ufa-Fabrik galten anfangs als Bürgerschreck.© ufaFabrik
"Wir haben sofort ein Transparent über die Straße gehängt "Herzlich Willkommen". Und wir haben alle Leute eingeladen, herzukommen, sich umzuschauen, mitzumachen. Und natürlich das Kulturprogramm, das wir angeboten haben, wahrzunehmen."
Die Offenheit ist ein wichtiges Erfolgsrezept der Ufa-Fabrik. Die Lebensgemeinschaft verschanzt sich nicht auf dem Gelände, teilt nicht die Welt ein in "Wir Guten hier drin" und "Die Bösen da draußen". Dogmatische Regeln sind den Kommunarden fremd. Von Anfang an sind Tore und Türen offen, skeptische Nachbarn können sich ein eigenes Bild von den Langhaarigen machen.
Eine der ersten Neugierigen ist Eva Mehnert: "Ich habe ganz früher hier auf dem Gelände gearbeitet. Ich bin eine alte Ufa-Schnecke."
Eva Mehnert ist heute 93, sie schiebt gebückten Ganges ihren Rollator am Café vorbei. Fast jeden Tag schaut sie vorbei, früher hat sie sich ehrenamtlich beim Kinderbauernhof engagiert.

Mietvertrag und Lob vom CDU-Senator

Vor 40 Jahren hing hier ein Transparent mit der Aufschrift: "Idealisten für unser Ökokommune gesucht", erinnert sich die Seniorin, "das hat mich nicht erschreckt. Weil ich gesehen habe, was das für welche waren und was sie wollten. Und ich fand das gut. Wie sie hier raufkutschiert sind, hab ich's gesehen und da hab ich geguckt, was da los ist und da bin ich geblieben."
Anfangs gelten die Besetzer als Bürgerschreck. Die Politik ist skeptisch. Doch die Ufa-Kommunarden – allen voran Juppy – umarmen alle und überwältigen sie mit ihrer Freundlichkeit. So erhalten sie einen Mietvertrag und Lob vom damaligen CDU-Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer.
"Das sind nicht Leute, die sich zusammentun und behaupten, sie könnten was. Sondern das sind Leute, die seit einigen Jahren etwas auf die Beine gebracht haben. Im kulturellen Bereich, aber auch handwerklich. Sie haben etwas vorzuweisen, sie haben etwas geleistet."
"Schönen guten Tag liebe Kinder, seid ihr alle da? Jaaa. Herzlich Willkommen, liebes Publikum, hier im Ufa-Land. Wir zeigen Euch heute ein Programm, in dem es garantiert keine Toten gibt."

Alles aus eigener Kraft gestemmt

Mehr als 10 Jahre kommt die Ufa-Fabrik ohne öffentliche Subventionen aus, stemmt alles aus eigener Kraft. Sie leben zu fünft oder sechs in einem Zimmer, wirtschaften aus einer gemeinsamen Kasse. Jeder nimmt sich heraus, was er oder sie braucht. Täglich trifft man sich zum Plenum und diskutiert – zur Not die ganze Nacht hindurch, erzählt Siegrid Niemer, inzwischen 64 Jahre alt:
"Keiner wollte Urlaub machen, weil hier passierte so viel, und es war so aufregend, dass wir gar nicht wegwollten. Wir hätten ja was verpasst."
Stück für Stück sanieren sie die Gebäude des ehemaligen Ufa-Kopierwerkes, gründen eine Vollkornbäckerei, eine freie Schule, einen Kinderbauernhof.
Kostümierte Erwachsene machen mit Kindern akrobatische Figuren.
Ein Bild aus den Anfangsjahren: Auf dem Gelände der Ufa-Fabrik gibt es eine Zirkusschule.© dpa
Und so wird aus einem heruntergekommenen Firmengelände im Laufe der Jahre auch eine grüne Oase mitten in der Stadt. Ponys wiehern, Schweine grunzen, Gänse schreien, Bienen summen, Frösche quaken. Als Nachhaltigkeit noch ein Fremdwort ist und etwas für abgedrehte Ökospinner, montieren die Ufa-Leute bereits Solaranlagen auf ihre Dächer, sammeln das Regenwasser, nutzen es für ihre Toilettenspülungen.
"Damals war das in der Gesellschaft noch völlig unüblich. Wir haben auch viel experimentiert. Die ersten Solarkollektoren, die ersten Gründächer hatten wir ja schon Mitte der 80er Jahre auf unsere Dächer gepackt. Bis heute sind wir dabei. Jetzt ist es Mainstream."
Die Ufa-Fabrik wächst und wurde erfolgreich. Irgendwann kommen die Finanzbeamten – klar. Die Buchhaltung ist ihnen nicht geheuer. "Sie glaubten einfach gar nicht, dass wir kein privates Geld hatten. Das war in der Welt der Finanzbeamten unvorstellbar."
So werden auch die Ufa-Kommunarden mit den Jahren bürgerlicher, beginnen, sich Gehälter zu zahlen. Und nicht immer läuft alles reibungslos. Die Bäckerei muss Insolvenz anmelden, wird inzwischen von einer Fremdfirma betrieben. Partnerschaften scheitern. Wie überall, sagt Siegrid Niemer.
"18.600 Quadratmeter, sieben Häuser. Also es gibt auch ganz gute Möglichkeiten, sich mal eine Weile aus dem Weg zu gehen."

Ideen von damals bleiben lebendig

Mittlerweile ist die Gründergeneration im Rentenalter. Die Besetzer von einst ziehen sich zurück, Platz ist da für Neue und Neues. Die Ideen von einst bleiben lebendig: Eine Lebensgemeinschaft, die Halt gibt, der Versuch, ökologisch und nachhaltig zu wirtschaften, ein selbstbestimmtes Leben, ein demokratisches Miteinander, Kunst und Kultur. Frido Hinde, heute 35, ist in der Ufa-Fabrik aufgewachsen:
"Also mir sind in meiner Pubertät ziemlich viele Dinge auf die Nerven gegangen. Und ich hab mich bestimmt auch über viele Dinge geärgert, aber ich hatte nie den Punkt, dass ich gesagt habe, mit der Ufa-Fabrik will ich nichts mehr am Hut haben."
Die ufaFabrik im Dunkeln beleuchtet.
Die ufaFabrik bietet auf knapp 19.000 Quadratmetern Kulturangebote.© ufaFabrik
Mit 19 zieht Frido Hinde aus der Kommune aus, studiert Volkswirtschaft, sucht seinen eigenen Weg. Kehrt zurück, übernimmt Verantwortung als Geschäftsführer des internationalen Kulturzentrums Ufa-Fabrik. Der Generationswechsel?
"Es sieht danach aus, als würden wir das überall gut hinkriegen. Und das ist natürlich ein Zusammenspiel der verschiedenen Generationen. Für die Älteren heißt das, sich an bestimmten Stellen zurückzunehmen, obwohl es das eigene Lebenswerk ist. Das ist natürlich nicht immer einfach."
"Ich misch mich nur noch ein, wenn es wichtig ist. Wenn man das nicht so einfach lösen kann. Ansonsten misch ich mich nicht überall ein. Ich bin ja nicht irre", sagt Mitgründer Juppy. 200.000 Gäste zählt die Ufa-Fabrik jährlich. Sie kaufen ihr Vollkornbrot in der Biobäckerei, schicken ihre Kinder zum Ponyreiten, toben sich in der Samba-Gruppe aus, lachen über das Kabarett von Arnulf Rating, lassen sich im Nachbarschaftszentrum beraten, übernachten im Gästehaus, studieren in der Jazzschule Berlin. Juppy kennen sie alle. Ihm, dem grenzenlosen Optimisten, gehört natürlich das Schlusswort:
"Ich kenne nur die Guten, ich kann nichts dafür. Die Götter waren mit uns." Viktoria, der Sieg ist da.
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