Überraschend, paradox, melancholisch

Bisher unveröffentlichte Texte des Schriftstellers Wilhelm Genazino sind im Essayband "Idyllen in der Halbnatur" zu lesen. Schwerpunkt des Buches sind seine Bamberger Vorlesungen. Die Leser erfahren unter anderem sehr detailliert, wie dessen Romane entstanden sind.
Der Literaturbetrieb bringt es mit sich, dass Schriftsteller, deren Romane eine große Leserschaft haben, auch nach anderen Texten gefragt werden: Sie müssen Reden halten, sich bedanken, Nachworte schreiben oder über ihr eigenes Werk Auskunft geben. Bei einem Autor wie Wilhelm Genazino ist man beglückt, dass dem so ist, und man freut sich zusätzlich, wenn die oft entlegen erschienenen oder bisher gar nicht veröffentlichten Texte auch zu einem Buch zusammengestellt werden. Die "Idyllen in der Halbnatur" sind aber keineswegs eine Aneinanderreihung von Gelegenheitsarbeiten. Sie führen in den Kern der Genazino-Welt – und nicht nur, weil die wichtigsten Bezugspersonen Franz Kafka, Samuel Beckett und Virginia Woolf an prägnanten Stellen vertreten sind.

Die Bamberger Vorlesungen, die Genazino im Sommer 2009 gehalten hat, sind ein Schwerpunkt des Buches. Hier gibt der Autor Auskunft über die Genese und die Umstände seiner eigenen Bücher, und zwar so detailliert und unverhüllt, wie man es bisher nicht von ihm kannte. Dass der Beruf des "Schuhtesters" in seinem berühmten Roman "Ein Regenschirm für diesen Tag" keineswegs eine poetische Erfindung ist, sondern dass er tatsächlich existiert, ist eine dieser augenzwinkernden Informationen: Genazino hat sich selbst, als mittelloser Autor in den frühen 80er-Jahren, auf ein Inserat in der "FAZ" hin als ein solcher beworben.

Die "Blödigkeit" aus dem Roman "Liebesblödigkeit" geht auf ein Gedicht Friedrich Hölderlins zurück, und so wurde dieses ausgestorbene Wort in einen neuen verborgenen Kontext überführt, wie sich überhaupt eine Theorie der Verborgenheit, an der Genazino immer wieder mit kleinen Einzelskizzen gearbeitet hat, beim Lesen dieser Texte als durchgehendes Movens einstellt. Das grundlegende Paradoxon der zeitgenössischen Existenz, die Grundbefindlichkeit ist ja die: trotz der allseits versuchten Auflösung des Subjekts ein Subjekt zu bleiben. Und zu solch einer Subjektivierung holt Genazino immer wieder auf überraschende Weise aus.

Das Sehen, das Beobachten ist eine der Haupttätigkeiten der Figuren dieses Autors, und er zeigt behutsam die Entwicklung auf, die dies genommen hat: von den soziologisch beeinflussten Angestelltenromanen der "Abschaffel"-Trilogie bis zu Texten, die die Bildende Kunst und die Fotografie immer wieder eindringlich thematisieren. Der dritte und letzte Teil der vorliegenden Essaysammlung handelt von Künstlern wie Giorgio Morandi, Francis Bacon oder Georges Seurat.

Äußerst spannend, und dabei geht es um die Ausgangsimpulse des Schreibens selbst, ist Genazinos Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse. Er reflektiert über das Verhältnis von literarischem Prozess und dem Freudschen Phantasieren, dem Tagtraum, und in einem Aufsatz über "Trauer und Melancholie" bezieht er die Freudschen Überlegungen direkt auf die Zustände seiner Figuren, deren hervorstechendstes Merkmal eine nicht näher greifbare und sich entziehende Melancholie ist. Mit Genazino gelangen wir ins innerste Zentrum der Literatur.

Besprochen von Helmut Böttiger

Wilhelm Genazino: Idyllen in der Halbnatur
Essays
Carl Hanser Verlag, München 2012
235 Seiten, 18,90 Euro

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