Fertigschicksal zum Mitnehmen

In seinem neuen Roman schreibt Wilhelm Genazino über einen freien Architekten, der über die Unzumutbarkeiten des Lebens verzweifelt. Wie so häufig stehen in den Texten des Autors nicht die Handlung im Mittelpunkt, sondern die scharfen Sätze, die grellen Beobachtungen, die Verzweiflungskomik.
Der Held dieses Buches ist ein freier Architekt. Stundenlang muss er sich seiner selbst versichern, durch ziellose Spaziergänge und Fensterausblicke, bis er fast somnambul die ausbaufähige Skizze einer neuen Tankstelle oder eines Brückenprojektes ausführt. Er hält sich viel auf seine Individualität zugute, bis er sich plötzlich dabei ertappt, dass er von einer überteuerten Boutiquen-Metzgerei einen Fertigsalat mit nach Hause nimmt: "Jetzt trug ich mein Fertigschicksal in meine Fertigwohnung, wo ich einen Fertigabend vor dem Fernsehapparat verbringen würde."

Durch ein groteskes Szenario ergibt es sich im Folgenden, dass ihm eine feste Stelle in einem Architektenbüro angeboten wird – sein dort beschäftigter Freund Michael ist 42-jährig an einem Herzinfarkt gestorben, auf dem Sofa liegend, nach dem Abendessen. Eigentlich, so hatten es sich alle Beteiligten gedacht, "würde er erfrischt und ausgeruht ins Eheleben zurückkehren".

Die Festanstellung beschleunigt alles. Die grotesken Situationen steigern sich, den roten Faden bilden dabei diverse kleinkriminelle Formen des Betrugs, doch wie so häufig in den Texten Genazinos stehen gar nicht so sehr die Handlung und ihre Knäuel im Mittelpunkt, sondern die scharfen Sätze, die grellen Beobachtungen, die Verzweiflungskomik.

Zu einem Leitmotiv wird das Kornweihen-Pärchen, das er einmal bei einem Klassenausflug mit dem Biologielehrer sah: "Das Männchen flatterte eine Weile allein am Himmel und schwebte dann herab auf die Erde, wo das Kornweihenweibchen am Boden saß und wartete. Flügelschlagend und schreiend begattete das Männchen seine Partnerin und entschwebte dann wieder in die Höhe." Vor allem dies ist es, was des Helden Neid erweckt: das Entschwinden in den Himmel: "Ja, dachte ich, so müsste auch der Mensch fliehen dürfen und durch die Flucht keinerlei Verstimmung zurücklassen."

Die Unzumutbarkeiten des äußeren Lebens sind für den Helden kaum mehr zu ertragen. Das wird bei Genazino immer radikaler: Sein letzter Held landete in der Psychiatrie, der aktuelle findet sich im Gefängnis wieder. So werden die Möglichkeiten der Literatur immer extremer vorangetrieben. Hinter den diversen Maskeraden kann sich die Möglichkeit einer eigenständigen Weltsicht verstecken: "Ich war ein moderner, zuweilen konfuser Mann geworden, der seiner Ich-Suche überdrüssig geworden war (das war meine Vermutung) und seine temporäre Verwirrung mehr und mehr annahm."

Die Ich-Form wird bei Genazino zu einer furiosen Erprobung von Fluchtwegen. Die klassischen Instanzen der Erzählung, die Ich- und die Er-Perspektive, verschwimmen, die Ich-Figur kommentiert sich in der Pose des einstmals allwissenden Erzählers ständig selbst. Das Große an diesem Autor ist, dass genau dies einen starken Sog der Identifikation erzeugt.

Besprochen von Helmut Böttiger

Wilhelm Genazino: Wenn wir Tiere wären. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2011
158 Seiten, 17,90 Euro