Über Verdienste und Gräuel

Rezensiert von Jörg Friedrich |
Stalin leuchtet wieder hell über Putin-Land, denn die Verdienste des "Woschd", des Führers, zählen weit mehr als seine Gräuel. Hat er Russland nicht mächtiger und gefürchteter gemacht als je zuvor und danach? Der Autor Wolfgang Leonhard räumt in "Anmerkungen zu Stalin" mit dem Mythos Stalin auf.
Nicht totzukriegen sind die Bewunderung, Verehrung und Liebe, die dem größten Menschenabschlachter des 20. Jahrhunderts gelten, "Väterchen Stalin". Beträchtlich ist zugleich die Gemeinde seiner Verächter und zeitweilig schien sein Stern von den über 20 Millionen seiner Blutopfer verdunkelt.

Doch hell leuchtet er wieder über Putin-Land, denn die Verdienste des "Woschd", des Führers, zählen weit mehr als seine Gräuel. Hat er Russland nicht mächtiger, umfangreicher, gefürchteter gemacht als je zuvor und danach in seiner stolzen Geschichte? Wolfgang Leonhard:

"Symptomatisch ist das Ergebnis einer breit angelegten Meinungsumfrage, die 2008 vom staatlichen Fernsehsender ‚Rossija’ initiiert wurde in der über die ‚bedeutendste historische Persönlichkeit Russlands’ abgestimmt werden sollte. Der Sieger: Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili-Stalin."

Doch handelt es sich nicht allein um Nationalsympathie, haben ihn doch einst Dichter und Denker aller Zungen als Humanisten umschwärmt. Nennen wir stellvertretend nur Heinrich Mann, George Bernhard Shaw, Louis Aragon, Ignazio Silone, Gyorgy Lukacs, Ernst Bloch, doch standen sie in phantasiegelenkten Berufen, denen man keinen Politikverstand zumutet.

Anders die unvergänglichen Idole der demokratischen Welt, US-Präsident Roosevelt und Premier Churchill, deren politisches Urteil durchaus etwas taugt. Nachgerade aus Professionalismus schätzten sie den Kriegsverbündeten, der ihnen beiden als Machtstratege um Längen voraus war, wie ihre Mitarbeiter während der Gipfeltreffen neidvoll einräumten.

Der 1,62 Meter große Schustersohn aus Georgien war der politische Genius seines Zeitalters, der neben sich allenfalls noch Hitler achtete, ein wechselseitiges Gefallen. Das eurasische Weltreich, das dieser sich erschwindeln wollte, hat jener schließlich gewonnen, trefflich formuliert von dem dupierten Churchill: "We slaughtered the wrong swine!", wir haben das falsche Schwein geschlachtet.

Größe und Grauen Stalins sind von der Geschichtsschreibung maßvoll abgehandelt; seine Gestalt steht weit schattierter vor uns als diejenige Hitlers. In Anlehnung an dessen bislang gelungenste Skizze, Sebastian Haffners ‚Anmerkungen zu Hitler’, legt Wolfgang Leonard seine ‚Anmerkungen zu Stalin’ vor. Es fügt dem reichen Schrifttum eine Kostbarkeit hinzu, eigenes Erleben, Erleiden und Irren. Für die zwangsläufige Blindheit des historischen Menschen fehlt Historikern meist der Sinn, weil sie im nachhinein alles begreifen. Mann kann aber Geschichte gar nicht beschreiben ohne den Nebel, die Nacht, die den Zeitgenossen umgibt. Für den Historiker alles Idioten. Mag sein, aber er ist auch einer in seiner Zeit.

Das Anrührende, ja Schöne an dem schmalen Buch des 88-jährigen Leonhard ist die Mischung seiner souveränen Gelehrtheit mit der Demut seines Jugendportraits. Beseelt von der Marxschen Utopie vom Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen, vom Brechen der Ketten um die Verdammten dieser Erde, denen eine Welt zu gewinnen winkt, gerät der 14-jährige Emigrantensohn in den Knaststaat Lenins und Stalins:

"Verfallene Häuser und ärmlich gekleidete Menschen bestimmen das Straßenbild. Es dauerte allerdings nicht lange, bis ich diese Enttäuschung überwand. Dafür sorgten die sowjetischen Grundbegriffe des Marxismus-Leninismus, die ich in Moskau sehr schnell verinnerlichen sollte. Wenn es im kapitalistischen Westen baufällige Häuser gab, war dies typisch für den Untergang des Kapitalismus. Waren in der Sowjetunion Häuser baufällig, dann handelte es sich um Reste der zaristischen Vergangenheit.

Wenn im kapitalistischen Westen die Preise erhöht wurden, war dies ein untrügliches Zeichen für die Verschärfung der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Wenn dagegen in der Sowjetunion die Preise erhöht wurden, war dies eine bedeutende Maßnahme für den sozialistischen Aufbau. Das war alles klar und deutlich."

An und für sich ist dies unerheblich, ob sich Talibane auf Allah, die Menschenfresser auf den Liebeshunger oder Stalin auf die Arbeiterbefreiung berufen. Ein Schinder bleibt ein Schinder, ungeachtet seiner theoretischen Parfümierung. Interessant ist sie nur für die Morphologie des Irrtums. Bleibt doch das 20. Jahrhundert unverständlich, solange wir nicht wissen, wie die großen Schinder zum Abgott der Abermillionen von Nichtschindern geworden sind, ja selbst der Geschundenen.

Leonhard berichtet uns von drei inneren Zuständen: dem Delirium des Götzendienstes, der lähmenden Angst, und der tröstlichen Illusion. Alle drei sind ja Sedative: erstens ist alles supi, zweitens muss man stille halten und drittens verhält es sich schon nicht so schlimm, wie es aussieht. Je dichter der Untergang, je auswegloser die Lage, desto nötiger die Tranquillizer, Rausch, Verunsichtbarung, Selbsttäuschung. Alle wirken zusammen bei Stalins Schädlingsbekämpfungskampagne von 1936/37.

Ein jeder konnte zum Schädling ausgerufen werden, keine Klassen- und Rassenzugehörigkeit, kein Treueschwur nahm einen gegen die totale Willkür in Schutz. Schädlinge wurden nach Quoten ausgehoben, teils in Schnellprozessen abgeurteilt, teils in Todeslager verschleppt, teils von Folterknechten zerlegt. Wie Leonhard glaubhaft erzählt, geschah dies unter öffentlicher Akklamation.

"So sah man 1937 in Moskau riesige Plakate mit dem Konterfei von Stalin und dem von Nikolai Jeschow, dem damaligen Generalkommissar für Staatssicherheit, der die Verhaftungen organisierte und unmittelbar befehligte. Jeschow trug auf diesen Plakaten Handschuhe mit Stacheln, zwischen denen er Menschenkörper zusammenpresste, dass ihr Blut spritzte. Darüber stand in großen Lettern: ‚Wir vernichten die Feinde des Volkes.’ Und darunter: ‚Der sowjetische Geheimdienst wird noch zeigen, wozu er fähig ist.’

Das Prinzip der Öffentlichkeit des Stalin-Terrors hatte noch eine andere Facette. Betriebe, Schulen, Hochschulen, Ministerien, Armee-Einheiten und Kollektivwirtschaften hielten regelmäßig Versammlungen ab, auf denen öffentliche Aussprachen über die Verhaftungen simuliert wurden. Auch hier sah man Plakate mit Parolen wie ‚Erschießt die tollwütigen Gegner unseres Systems!’ oder ‚Keine Gnade! Erschießen!’ So sprach angeblich die Stimme des Volkes."

Hinzugefügt sei eine völlig angst- und ideologiefreie Stimme, die des amerikanischen Botschafters Davis, ein namhafter Jurist, der die Schädlinge allesamt für schuldig und Stalin für einen dynamischen Ordnungsfaktor hielt. Davis’ Tagebuch fand am US-Buchmarkt 1941 reißenden Absatz. Der Ordnungsmensch machte sich soeben daran, verbündet mit und satt subventioniert von der freien Welt, einen anderen Ordnungsmenschen zu vertilgen, der – obwohl man jüngst Polen überfallen und den Weltkrieg entfacht hatte, beim Partner alsbald einmarschiert war.

Das Tollhaus dieser verblichenen Geschlechter, von dem Leonhard als einer der Letzten persönliches Zeugnis ablegt, hat die Nachgeborenen natürlich kaum klüger oder besser gemacht. Dass die Partei, die Ostdeutschland 45 Jahre geknechtet und ruiniert hat, unter unseren Freiheitsverhältnissen mehr Zuspruch findet als je unter den unfreien stalinistischer Provenienz, das ist auch kein Glanzlicht der Demokratie.

Hatte sie nicht Hitlers Mannen zur stärksten der Parteien gekürt, um von denselben schnöderweise gleich abserviert zu werden? Und nun hoffen wir, dass die Linken unbegabter dazu sind, als dazumal die Rechten. Die Stalins steigen denn doch nicht aus jedem Tümpel.


Wolfgang Leonhard: Anmerkungen zu Stalin
Rowohlt Berlin 2009
Cover:"Wolfgang Leonhard: Anmerkungen zu Stalin"
Cover:"Wolfgang Leonhard: Anmerkungen zu Stalin"© Rohwolt Verlag