Über die Einsamkeit des Liebenden

Von Christian Gampert |
Die letzte Aufführung unter dem scheidenden Intendanten Wolfgang Reiter am Theater am Neumarkt in Zürich war programmatisch zu verstehen. Nicht ein dramatischer, sondern ein philosophischer Text wurden mit Roland Barthes' "Fragmente einer Sprache der Liebe" für die Bühne inszeniert. Am Ende luden die Schauspieler das Publikum zum Essen ein.
Vier Jahre war Wolfgang Reiter Intendant am renommierten Züricher Neumarkt-Theater, seit 2004. Aber schon im zweiten Jahr seiner Amtszeit hatte ihm der Verwaltungsrat des Theaters mitgeteilt, dass man seinen Vertrag nicht verlängern werde – zu avantgardistisch erschien den Verwaltungsleuten das Programm, das Reiter aufgelegt hatte. Der Intendant ließ in jeder Produktion eine neue Ästhetik ausprobieren, er verstand den "Neumarkt" als Experimentierbühne – die Züricher aber fürchteten um die Zuschauerzahlen. Die haben sich in den letzten zwei Jahren zwar wieder stabilisiert, aber Reiter muss trotzdem gehen. Zum Ausklang dieser Ära inszenierte nun Jarg Pataki "Fragmente einer Sprache der Liebe" nach Roland Barthes – und anschließend durfte man mit den Schauspielern zu Abend essen.

Diese Abschlussinszenierung ist – noch einmal - als programmatisch und repräsentativ zu verstehen für das, was das Neumarkt-Theater in den letzten vier Jahren veranstaltet hat: nicht ein dramatischer Text, ein Stück ist die Vorlage für den Abend, sondern die in Essay-Form gehaltenen Reflexionen von Roland Barthes über die Liebe. Für ihn als Zeichentheoretiker geht es dabei vor allem um die Sprache der Liebe: wir alle schöpfen aus einem kulturell grundierten Gefühls- und Verhaltens-Code, die rhetorischen Formen, in denen wir über die Liebe sprechen, sind von Romanlektüre und Geistesgeschichte geprägt – und trotzdem ist der Liebende ein Einsamer, ein Revolutionär, der gängige Verhaltensnormen außer Kraft setzt in einem kurzen Akt der "Bejahung", der Bejahung der Liebe nämlich.

Die Einsamkeit des Liebenden, seine narzisstische Selbstbespiegelung, seine Projektionen, die Unerfüllbarkeit seiner Sehnsüchte - das ist der Ansatzpunkt des Regisseurs Jarg Pataki. Er schickt das Publikum zunächst durch einen dunklen Tunnel, in dem einzelne Schauspieler Bruchstücke über das Begehren, die Verrücktheit, die Liebestrunkenheit erzählen. Dann schaut man durch Sehschlitze von außen, wie in einer Peep-Show, in einen zunächst dunklen Raum: unter Gaze-Bahnen liegen dort wiederum rezitierende Schauspieler, die sich dann aufrichten, das Publikum in den Innenraum einlassen und, begleitet von einer Schumann spielenden Pianistin, einzelne Fragmente aus dem Barthes-Buch anspielen, tanzen, dem auf seltsamen Steinblöcken sitzenden Publikum erzählen: über die erste Begegnung, die Eifersucht, die Angst, die Dämonen der Ausgeschlossenheit und der Begierde, über Nähe und Distanz, die Ähnlichkeit der Verliebtheit mit der Psychose, schließlich über die Grenzen der Sprache.

Eine große lange Reflexion, die der Regisseur wie ein Musikstück immer wieder mit den Piano-Passagen verfugt. Das Thema der Liebe wird dabei ebenso umkreist wie das Publikum selber; Barthes reichert seine Selbstbeobachtungen in Cafés, Hotels und bei nächtlichen Spaziergängen immer wieder mit Lektüreeindrücken aus dem Werther, der Psychoanalyse, der griechischen Philosophie an. Eine ganze Weile geht das gut, bei konzentriertem Zuhören, aber nach etwa einer Stunde könnte dann durchaus mal etwas theatralisch Neues passieren.

Das genau war auch das Problem der Intendanz des Wolfgang Reiter: das Erkunden einzelner ästhetischer Möglichkeiten, hier der Vorlesung, endete oft in einer theatralen Installation und überforderte möglicherweise das Publikum. Renommierte Leute haben am Neumarkt inszeniert oder für dieses Theater geschrieben: Joachim Schlömer machte einen Tanzabend mit minimalistischer Musik, bei Martin Suters erstem Theaterstück verwandelten sich Schauspieler in Dinge, die zu sprechen begannen; der Dichter Franzobel schrieb ein Stück über Automatenmenschen, lateinamerikanische Regisseure erzählten über die Leiden der Dritten Welt, der Sprachartist Valère Novarina bescherte uns einen Erkundungsritt durch die Welt der Laute.

Dieses nicht-narrative Theater, der Verzicht auf das Geschichtenerzählen: das ist anstrengend. In Zürich hatte das Neumarkt-Theater zuletzt eine verlässliche Fangemeinde um sich geschart; aber die überregionale Kritik war eher verhalten. Am Ende der "Fragmente einer Sprache der Liebe" luden die Schauspieler das Publikum zum Essen ein und kochten sogar selber – ein freundlicher Abschluss dieser Intendanz, während der es doch einige Aufregung gegeben hatte.
Mehr zum Thema