Tunesiens neue Verfassung

Vulnerable Gruppen unter Druck

21:01 Minuten
Eine Karikatur des tunesischen Präsidenten Kais Saied in Militäruniform mit der arabischen Aufschrift "Nein zur Herrschaft eines Diktators" neben der tunesischen Flagge. Während einer Demonstration von Anhängern tunesischer Oppositionsparteien und tunesischer zivilgesellschaftlicher Gruppen in Tunis am 22. Juli 2022, um gegen den tunesischen Präsidenten Kais Saied zu protestieren und zum Boykott des bevorstehenden Verfassungsreferendums am 25. Juli aufzurufen.
Karikatur des Präsidenten Kais Saied mit der arabischen Aufschrift "Nein zur Herrschaft eines Diktators" bei einer Demonstration in Tunis – vor dem Verfassungsreferendum. © Getty Images / NurPhoto / Chedly Ben Ibrahim
Von Sarah Mersch · 06.10.2022
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Seit August hat Tunesien eine neue Verfassung. Sie gibt Präsident Kais Saied deutlich mehr Macht. Kritiker sehen einen weiteren Schritt des Landes Richtung Diktatur. Die Lage derer, deren Rechte auch zuvor missachtet wurden, hat sich verschlechtert.
Sie haben es geschafft: Zum dritten Mal findet in Tunis Ende September ein queeres Filmfestival statt. Cherifa steht in einem langen, schwarzen Spitzenkleid auf der Bühne. Sie führt durch die Eröffnungsfeier.
Mehrere Hundert geladene Gäste jubeln ausgelassen. Nach mehr als zwei Jahren pandemiebedingter Zwangspause trifft sich die queere Community in Tunesien zum ersten Mal in einem größeren Rahmen wieder.

Homosexualität steht unter Gefängnisstrafe

Dass das Festival überhaupt stattfinden kann, ist in gewisser Weise ein Paradox. Denn Homosexualität wird in Tunesien mit drei Jahren Gefängnis bestraft und ist in weiten Teilen der Gesellschaft geächtet.
Seit dem politischen Umbruch 2011 ist die queere Gemeinschaft stärker in die Öffentlichkeit getreten, hat für ihre Rechte gekämpft und Etappensiege erzielt. Doch mit der Sichtbarkeit sind auch die Anfeindungen gestiegen.
Amina Sboui, ehemalige Femen, hält bei einer Demonstration am Nationalen Frauentag im August 2018 in Tunis eine Regenbogenflagge hoch. Daneben sind weitere Demonstranten mit der tunesischen Flagge zu sehen.
Mit der Sichtbarkeit stiegen auch die Anfeindungen: Nach dem dem Umbruch 2011 ist die queere Community in Tunesien stärker in die Öffentlichkeit getreten.© Getty Images / NurPhoto / Chedly Ben Ibrahim
Viele Festivalgäste wollen daher anonym bleiben, so wie diese Besucherin. Am Handgelenk trägt sie ein rosafarbenes Bändchen des Festivals. Nur so hat sie Zugang.
„Bei so einem Event fühle ich mich sicher, denn ich weiß, dass die Sicherheitsvorkehrungen sehr gut sind. Aber wenn ich raus auf die Straße gehe, ist das anders. Ich würde mich zum Beispiel nicht trauen, mich dort mit dem Festivalbändchen zu zeigen“, erzählt sie.

Übergriffe auf die Community nehmen zu

Die Besucher müssen sich vor Festivalbeginn namentlich bei den Organisatoren anmelden. Die Spielstätten werden geheimgehalten, an den Sälen hängen keine Plakate, keine Programme. Der Schutz der Gäste habe oberste Priorität, erklärt Karam Aouini, künstlerischer Leiter des Filmfestivals.
„Wir können uns auch 2022 noch nicht als LGBT-Festival der großen Öffentlichkeit zugänglich machen“, sagt er. „Wir hatten zwar in der Vergangenheit keine konkreten Probleme, aber allein wegen des ganzen Hasses und der Diskriminierung, die uns auf den sozialen Netzwerken entgegenschlägt, sind wir lieber vorsichtig.“
Auf den Schutz durch die Polizei können sie dabei nicht zählen. Im Gegenteil: In der Vergangenheit hat diese mehrfach bekannte Aktivistinnen und Aktivisten angegriffen, Menschen wegen ihrer Homosexualität oder angeblicher Übergriffe auf Beamte angezeigt, wenn sie sich gegen Diskriminierung gewehrt haben.
Finanziert wird der Verein Mawjoudin, der das Festival organisiert und sich für individuelle Freiheiten einsetzt, vor allem von ausländischen Geldgebern.
Präsident kritisiert angeblichen Einfluss von außen
Staatspräsident Kais Saied, der im Juli 2021 die Regierung abgesetzt und das demokratisch gewählte Parlament entmachtet hat, hört in seinen Reden nicht auf, gegen Einflüsse von außen zu wettern.
Schon vor seiner Wahl zum Präsidenten vor drei Jahren hatte er einer Zeitung gegenüber gesagt, ausländische Geber würden gezielt Homosexuelle unterstützen, um die Gesellschaft zu destabilisieren. Karam Aouini rollt nur die Augen, wenn er solche Anschuldigungen hört.
„Es hat in Tunesien, wie überall auf der Welt, seit Menschengedenken eine queere Gemeinschaft gegeben. Als ob sich ein Hetero von einem Geldgeber konvertieren ließe, um dann hier in so einem Elend zu leben“, sagt er.

Die junge Generation ist Freiheit gewohnt

In den Jahren seit der Revolution ist in Tunesien eine junge Generation herangewachsen, die nur die politische Freiheit kennt. Amen Sabtaoui, Regisseur des Eröffnungsfilms des Festivals, war zwölf Jahre alt, als Diktator Ben Ali im Januar 2011 aus Tunesien geflohen ist.

Ich bin privilegiert, weil ich in Freiheit aufgewachsen bin. Ich bin eine Kämpfernatur und lasse es nicht zu, dass mich jemand wegen meines Verhaltens, meiner Sexualität oder meiner Identität ungerecht behandelt.

Amen Sabtaoui, Filmregisseur

Ende Juli 2022 wurde in einem Referendum eine neue Verfassung verabschiedet. Die Wahlbeteiligung war gering, doch mehr als 90 Prozent der Wählenden haben für den neuen Text gestimmt.
Der tunesische Präsident Kais Saied gibt am 25. Juli 2022 in einer Grundschule in Tunis seine Stimme für das Referendum über eine neue Verfassung in Tunesien ab.
Die Macht zementiert: Präsident Kais Saied bei der Abstimmung über die neue Verfassung.© Getty Images / Anadolu Agency
Sie hoffen auf politische Reformen, Kampf gegen Korruption und eine Verbesserung der katastrophalen wirtschaftlichen Lage – Versprechen, mit denen Kais Saied 2019 angetreten war.

Tunesien hat de facto einen Alleinherrscher

Durch ein neues Zweikammer-System sollen die verarmten Regionen des Landesinneren besser vertreten werden: Aus lokalen Versammlungen werden Volksvertreter jeweils in die nächsthöhere Regionalinstanz gewählt bis hin zur zweiten Parlamentskammer.
Zusammen mit der direkt gewählten ersten Kammer sollen sie den Präsidenten kontrollieren. Doch eine wirkliche Gewaltenteilung gibt es in der Verfassung letztlich nicht, genauso wenig wie ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten durch die Abgeordneten.
Präsident Kais Saied hat mit dem neuen Text seine Macht zementiert und regiert de facto als Alleinherrscher.

Der reine Islam ist das Ziel

Zwar garantiert auch die neue Verfassung die individuellen Freiheiten, allerdings enthält sie auch einen Artikel, dass der Staat – Zitat – im Rahmen eines demokratischen Systems die Ziele des reinen Islam umzusetzen habe.
Der weltliche Charakter des Staates wird im neuen Text nicht mehr erwähnt.
„Früher hatten wir keine Angst, wir konnten trotz aller Korruption und allem auf die Straße gehen, konnten die Islamisten als Mörder bezeichnen. Sie haben sich wegen des internationalen Drucks nicht getraut, gegen uns vorzugehen“, sagt Amen Sabtaoui.
Und weiter:„Kais Saied ist ganz anders drauf. Der kann jemand unter irgendeinem Vorwand zu Hause abholen lassen und ins Gefängnis stecken. Heute habe ich wirklich zum ersten Mal Angst um meine Freiheit.“

Die Angst wächst

Ein Gefühl, das in Tunesien in diesen Tagen viele teilen, die aus dem einen oder anderen Grund an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, keine starke Lobby haben oder als systemkritisch gelten: Medienschaffende, Frauen, fliegende Händler, Fußballfans, Menschen aus Armenvierteln, Drogenkonsumenten.
Seit 2004 berichtet die Plattform Nawaat kritisch über die Entwicklungen in Tunesien. Gegründet als oppositioneller Blog zu Zeiten der Diktatur ist daraus heute ein dreisprachiges Online-Magazin zu gesellschaftlichen und politischen Themen geworden.
Die Redaktion versteht sich als politisch unabhängig, aber mit einer klaren Haltung pro Menschenrechte. Chefredakteur Thameur El Mekki hat sich mit Kaffee, Zigaretten und Laptop an einem Tisch im schattigen Innenhof des Redaktionsgebäudes niedergelassen.

Der Enthusiasmus ist weg

Die Arbeit fällt ihm in diesen Tagen nicht leicht.
„Wir hatten so viel Hoffnung, haben – bei uns im Kleinen, aber auch im ganzen Land – so viel gekämpft: politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, kulturell. Die Desillusionierung ist riesig, und das hinterlässt auch psychische Spuren. Das vergisst man ja manchmal und redet immer nur von den ganz konkreten, praktischen Dingen“, sagt er.

Der Enthusiasmus ist weg, der Siegeswillen, der Spaß an der Arbeit. Diese zwölf Jahre Übergangszeit haben sehr an uns gezehrt.

Thameur El Mekki, Journalist

Medienschaffende unter Druck

Auch wenn es in diesen zwölf Jahren seit der Revolution immer wieder Rückschläge gab und die Arbeitsbedingungen für Journalistinnen und Journalisten schwierig waren: seit dem Amtsantritt Kais Saieds vor drei Jahren habe sich die Situation kontinuierlich verschlechtert.
Der Präsident gibt keine Pressekonferenzen, geschweige denn Interviews, und staatliche Stellen erschweren zunehmend den Zugang zu Informationen, beklagt Thameur El Mekki. Außerdem würden Medienschaffende in der Öffentlichkeit immer häufiger daran gehindert, ihre Arbeit auszuüben.
Im September hat der Präsident außerdem ein Dekret zum Kampf gegen Cyberkriminalität erlassen. Darin ein Artikel, der die Verbreitung sogenannter Fake News und Gerüchte mit hohen Geldstrafen und bis zu zehn Jahren Haft bestraft.

"Die gesetzliche Basis für eine Diktatur"

„Dieses Dekret schafft die gesetzliche Basis für eine Diktatur. Natürlich stellen Fake News in Tunesien und anderswo große Herausforderungen und Probleme dar, aber man kann doch nicht dagegen kämpfen, ohne in Medienbildung zu investieren, ohne beim Staat selbst, der auch dafür verantwortlich ist, anzusetzen“, sagt Thameur El Mekki.
Und weiter: „Der Präsident hat selbst falsche Informationen und Zahlen bekanntgegeben, Versprechen abgegeben, die er nicht gehalten hat. Fällt das auch unter dieses Gesetz? Wird er genauso verurteilt? Das Gesetz ist sehr gefährlich, ein Damoklesschwert, das über jedem Bürger schwebt.“
Thameur El Mekki klickt sich durch die Webseite von Nawaat. Über fünf Fälle von Polizeigewalt haben sie allein in den letzten drei Wochen berichtet, darunter ein junger Drogenkonsument, der in Polizeigewahrsam gestorben ist und ein vom Zoll erschossener Schwarzhändler.
Obwohl der informelle Handel rund die Hälfte des Wirtschaftsvolumens des Landes ausmacht, gehen die Sicherheitskräfte immer wieder gegen die Händler vor. Solche Übergriffe wie die der letzten Wochen seien mehr geworden in letzter Zeit, so der Journalist.

Polizeigewalt ist systemisch

Auch sein Team hat immer wieder Schwierigkeiten mit den Sicherheitskräften. Im Frühjahr wurden zwei Videojournalisten von Nawaat stundenlang verhört, sollten ihre Bilder löschen, ihre Quellen offenlegen und wurden angezeigt.
Zwar wurde das Verfahren schnell eingestellt, doch der Fall ist bezeichnend. Sie hatten an diesem Tag selbst über einen der bekanntesten Fälle von Polizeigewalt der letzten Jahre berichten wollen: Ende März 2018 war der damals 19-jährige Omar Laabidi nach einem Fußballspiel in Tunis von Polizisten verfolgt und in einen Fluss nahe des Stadions getrieben worden. Dort ertrank er. Als der junge Fußballfan schrie, dass er nicht schwimmen könne, sollen die Sicherheitskräfte ihm noch zugerufen haben, dann solle er es eben lernen, berichten Augenzeugen.
Nach öffentlichen Druck stehen nun, vier Jahre später, 14 Polizisten wegen Totschlags vor Gericht. Dass es überhaupt zu einem Verfahren gegen sie gekommen ist, sei eine Seltenheit, sagt Firas Kefi, Journalist, Kommunikationsdirektor von Nawaat und selbst eingefleischter Fußballfan. „Die Situation wäre damals beinahe außer Kontrolle geraten. Die Fans wollten sich rächen. ‚Gerechtigkeit oder Chaos‘ war ihr Slogan. Sollten die Polizisten verurteilt werden, dann wäre das ein Wendepunkt in der ganzen Fußballszene“, sagt er.

Aber wir glauben noch nicht daran, denn wir wissen, in welchem Rhythmus die Justiz arbeitet. Wenn das Verfahren in Berufung geht, würde es noch drei, vier, fünf Jahren dauern, bis ein Urteil gefällt wird. Wir machen uns da keine Illusionen.

Firas Kefi, Journalist

Das Stadion als Ort des Widerstands

Der 29-Jährige geht ins Stadion seit er klein ist. Unter Langzeit-Machthaber Ben Ali war dies fast der einzige Ort, wo öffentlich Widerstand gegen den Staat möglich war.
Videos aus der Zeit zeigen Ultras, die regelmäßig regierungskritische Gesänge anstimmen. „Regierung, lass uns in Ruhe. Filmt uns ruhig, wir wissen, dass wir überwacht werden“, heißt es da unter anderem.
„Fußball ist der wichtigste Sport in Tunesien und der einzige Ort, an dem Menschen, die Protestgesänge anstimmen, der Polizei gegenüber in der Überzahl sind“, sagt Firas Kefi. „30 000 Zuschauer gegen 200 Polizisten. Das gibt es nur im Stadion. Und wenn die Situation eskaliert, dann tut sie das so richtig. Angeheizt auch durch die soziale Ungleichheit, die Ungerechtigkeit, die viele Fußballfans im Alltag leben.“

Schlechte Wirtschaftslage verschärft Spannungen

Die hat sich seit 2011, als die Menschen in Tunesien noch für Arbeit, wirtschaftliche Verbesserungen, ein Leben in Würde auf die Straße gegangen waren, verschlechtert.
Die Arbeitslosigkeit ist mit 15 Prozent insgesamt und fast 30 Prozent bei Universitätsabgängern noch fast genauso hoch wie damals, die Inflation mit mehr als acht Prozent deutlich höher. Selbst die Mittelschicht muss sich einschränken. Viele Grundnahrungsmittel und Medikamente sind seit Monaten gar nicht oder nur rationiert verfügbar, da der Staat die Importeure nicht bezahlen kann.
Im Vergleich zu vor der Revolution geht die Polizei aber heute viel härter gegen die Fans vor, in den letzten Jahren allerdings vor allem außerhalb der Stadien. Fernab der Fernsehbilder, die im ganzen Land über die Bildschirme in Cafés und Wohnzimmern flimmern.
Mit den Ultras stellt sich Firas Kefi heute nicht mehr so häufig in die Kurve – aus Sorge, um seine körperliche Unversehrtheit.
„Seit drei, vier Jahren, seit dem Fall von Omar Laabidi, hat sich die Situation verschärft. Es ist für die Fans keine Auseinandersetzung mehr mit einem Staat, der die Freiheiten einschränkt, sondern mit einem, der einen ‚von uns‘ getötet hat. Die Gewalt nimmt jede Saison zu, wie in der Gesellschaft auch. In dieser Hinsicht ist das Stadion ihr Spiegel“, sagt er.

Die Aushöhlung des Rechtsstaats

Auch zwischen Anhängern und Kritikern des Präsidenten wird der Ton rauer. Immer wieder geht es bei den politischen Auseinandersetzungen auch unter die Gürtellinie. Im Juni hatte Kais Saied 57 Richterinnen und Richter eigenmächtig abgesetzt.
Die meisten Männer unter ihnen offiziell wegen Korruption, doch bei den Richterinnen ging es um ihre moralische Integrität: In einer Rede sprach Kais Saied von Ehebruch, was in Tunesien strafbar ist. Wenig später wurden Ermittlungsakten und intime Videos der Betroffenen auf Facebook geleakt.
Richter-Kolleginnen, aber auch viele Anwältinnen protestieren damals gegen das Vorgehen. „Nimm die Finger weg von der Justiz, halt den Mund zu den Frauen“, skandieren sie.
Unter den Unterstützerinnen der betroffenen Richterinnen ist auch Bochra Belhaj Hamida, Feministin, ehemalige Anwältin und frühere Abgeordnete. Eine streitbare Figur, die sich seit mehr als 40 Jahren politisch und gesellschaftlich engagiert und immer noch polarisiert.

"Die Situation ist unerträglich"

Die aktuelle politische Situation bringt sie an ihre Grenzen.
„Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen. Zum ersten Mal fühle ich mich in Bezug auf Tunesien so entmutigt. Früher gab es immer einen Hoffnungsschimmer, dass sich etwas ändern wird. Die Situation ist unerträglich. Dieser Herr denkt, er sei der Einzige, der darüber urteilen könne, ob jemand schuldig sei oder nicht“, sagt sie.

Die Richter haben Angst. Wer nicht auf die Anweisungen hört, dessen Karriere ist vorbei. Wenn jemand gegen das Gesetz verstoßen hat, muss er bestraft werden. Aber dafür gibt es Verfahren. Es ist inakzeptabel und sehr traurig für das Land, dass man dafür das Privatleben von jemandem zerstört.

Bochra Belhaj Hamida, ehemalige Anwältin

Premierministerin mit „keinerlei Macht“

Der Präsident unterstütze Frauen nur, wenn es ihm politisch nutze und gut für sein Image sei, so Bochra Belhaj Hamida.
Dabei konnte sie der Nominierung von Najla Bouden als neuer Regierungschefin letztes Jahr durchaus etwas abgewinnen. Immerhin ist sie die erste Frau in Tunesien und der arabischen Welt auf diesem Posten.
Der tunesische Präsident Kais Saied sitzt in Anzug und mit Mund-Nasen-Schutz an seinem Schreibtisch, dahinter eine Landkarte Tunesiens und die Landesflagge. Auf dem Besucherstuhl sitzt eine westlich gekleidete ältere Frau, ebenfalls mit Mund-Nasenschutz.
Am 29. September 2021 ernannte Präsident Kais Saied Najla Bouden zur Premierministerin. "Ihre Haltung stört mich", sagt Bochra Belhaj Hamida.© imago / ZUMA Wire / Chokri Mahjoub
„Ich habe mich natürlich gefreut, dass endlich das Tabu gebrochen wird, nach mehr als 60 Jahren Männern an der Regierung. Es ist immer gut, dass sich die Leute daran gewöhnen, Frauen an der Spitze des Staates zu sehen“, sagt sie
Und weiter: „Aber alles andere ergibt keinen Sinn. Sie hat keinerlei Macht, keine Befugnisse. Ihre Haltung stört mich: Ichwürde sie gerne aufrecht sehen, erhobenen Hauptes. Aber sie sagt immer nur Ja, ja, ja. Während er redet und ihr eine Lektion erteilt. Das ist ein sehr patriarchales Verhältnis.“

Gleichberechtigung bleibt auf der Strecke

Anlässlich des Frauentags hat Kais Saied in den letzten Jahren immer wieder Frauen besucht, die am Rande der Gesellschaft stehen: Handwerkerinnen in einem Armenviertel der Hauptstadt zum Beispiel oder Landarbeiterinnen.
Doch dies sei reine Augenwischerei, findet die Frauenrechtlerin Bochra Belhaj Hamida: „Was hat er denn konkret für die Frauen vom Land gemacht, von denen er seit drei Jahren spricht?“
Sie kritisiert: „Er hat nicht mal die bereits verabschiedeten Gesetze zur Sozialversicherung und zur gleichen Bezahlung von Männern und Frauen umgesetzt. Er hat nichts getan. Er ist ein Ultrakonservativer, der den Errungenschaften tunesischer Frauen ein Ende gesetzt hat.“

Neues Wahlgesetz benachteiligt Frauen

Im Parlament waren Frauen seit der Revolution stark vertreten. Denn die Wahllisten mussten abwechselnd mit Frauen und Männern besetzt werden. Damals hätte sie zwar selbst in der eigenen Partei gegen männliche Machtnetzwerke kämpfen müssen, aber wurde im Parlament trotz allem gehört, erzählt Bochra Belhaj Hamida.
Im September 2022 hat Kais Saied ein neues Wahlgesetz erlassen. Bei den Parlamentswahlen im Dezember dieses Jahres wird es zum ersten Mal zur Anwendung kommen. Mit dem neuen Wahlrecht werden keine Parteien oder Listen mehr gewählt, sondern Einzelpersonen.
Frauen hätten in der stark patriarchalisch geprägten politischen Landschaft des Landes dadurch quasi keine Chance mehr auf einen Sitz im Abgeordnetenhaus.

Blick in eine unsichere Zukunft

Wie lange Präsident Kais Saied angesichts der massiven Finanz- und Wirtschaftskrise überhaupt noch fest im Sattel sitzen wird, mag in Tunesien in diesen Tagen kaum jemand sagen. Seine Verfassung werde ihn wohl kaum überdauern, schätzt die Frauenrechtlerin. Doch die Krise sei damit noch lange nicht überwunden.
„Ich bin sehr besorgt. Mehr kann ich dazu öffentlich eigentlich nicht sagen. Ich habe Angst, dass der nächste Machtwechsel nicht durch Wahlen vollzogen wird“, sagt sie.
Wie er auch aussehen wird: Sie hofft auf einen friedlichen Ausweg aus der verfahrenen politischen Situation.
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