"Wir brauchen Gewaltenteilung"
Seit Tunesiens Präsident Kais Saied im Juli den Notstand ausgerufen und das Parlament entmachtet hat, brodelt es im Land. Auf den Straßen demonstrieren Anhänger wie Gegner Saieds. Noch steht aber wohl die Mehrheit der Bürger hinter dem Präsidenten.
Auf den ersten Blick ein ganz normaler Samstag auf der Avenue Bourguiba, der Hauptstraße im Zentrum von Tunis. Vor dem hochgesicherten Innenministerium stehen Grüppchen von Polizisten in Uniform und in Zivil herum. Männer und Frauen schlendern über den Mittelstreifen, viele sind mit Einkaufstüten beladen. Doch am Ende der Straße, vor dem Stadttheater, kreist eine Drohne der Polizei in der Luft. Dort stehen sich Anhänger und Gegner von Präsident Kais Saied gegenüber.
Fast zwei Monate ist es her, dass Saied am 25. Juli den Notstand ausgerufen und die Macht an sich gerissen hat. Er hat das Parlament kaltgestellt und den Regierungschef entlassen. Damals verstummten die Proteste schnell. Es blieb lange ruhig auf den Straßen. Viele Tunesierinnen und Tunesier wollten erstmal abwarten, wie es weitergeht. Dies ist der erste zaghafte Protest gegen den Präsidenten. Zwei-, dreihundert Leute haben sich auf den Stufen des Theaters versammelt. Es sind fast ausschließlich Männer, die meisten etwas älter.
"Verfassung, Freiheit, Würde" und "Dégage", "Hau ab", skandieren die Demonstranten. So wie auch 2011 bei den Protesten, die zum Sturz von Langzeitmachthaber Zine el-Abidine Ben Ali geführt haben.
Ist das kein Putsch?
"Hast du die Verfassung gelesen? Den Notstandsartikel 80, von dem er redet? Da steht drin, dass das Parlament weiterarbeiten muss, und die Regierung. Stattdessen regiert er alleine. Ist das etwa kein Putsch?" Ihm mache die Machtübernahme Angst, sagt der Mittfünfziger.
"Ich habe die Diktatur von Ben Ali erlebt. Ich will nicht, dass ein Einzelner alle Macht hat. Wir brauchen Gewaltenteilung, damit nicht ein einzelner sein Programm durchzieht und das Volk erstickt."
Die Polizei hat den Platz vor dem Theater abgesperrt. Auf der anderen Straßenseite haben sich spontan Anhänger von Kais Saied versammelt.
Ein Mann wedelt mit einem Geldschein in der Luft in Richtung der Gegner des Präsidenten.
"Das sind doch alles Söldner, die repräsentieren doch nicht das Volk. Für ein Sandwich und zehn, zwanzig, fünfzig Dinar haben sie die hierhergebracht, um zu brüllen. Und wenn man sie fragt, warum sie gekommen sind, haben sie keine Antwort."
Monatelanger politischer Stillstand
Vor allem Ennahdha, der islamisch-konservativen Partei Tunesiens, wird oft vorgeworfen, dass sie Demonstranten zu Protesten karrt. Die Partei war als einzige an allen Regierungen der letzten zehn Jahre beteiligt und bis zuletzt stärkste Fraktion im Parlament. Viele Tunesier machen sie für die Probleme des Landes verantwortlich. Die Demonstranten seien eigentlich alles Islamisten, werfen die Anhänger von Saied ihnen vor.
"Die Situation der letzten zehn Jahre war schlimm. Das wollen diese Leute nicht verstehen. Es war die dunkelste Zeit in der Geschichte Tunesiens – in Sachen Wirtschaft, Lebenshaltungskosten, Bildung, alles! Tunesien war am Ende. Zum Glück hat Gott uns Kais Saied geschickt."
Vorausgegangen waren der Machtübernahme politische Machtspielchen, eine Blockade zwischen Regierung, Parlament und Präsident. Letzterer hatte den Regierungschef zwar selbst ernannt. Dieser hatte die Gunst von Saied jedoch schnell verspielt, da er sich schnell den Wünschen einer von gegensätzlichen politischen Interessen geprägten Regierungskoalition beugte. Es herrschte monatelang politischer Stillstand. Immer häufiger gab es Proteste gegen die Regierung, die weder die Wirtschaftskrise noch die Covid-Pandemie in den Griff kriegte.
Viele Leute feierten am 25. Juli, als Kais Saied den Notstand ausrief, den Präsidenten. Sie gingen spontan auf die Straße, einer Ausgangssperre zum Trotz.
Es fehlt auch ein Verfassungsgericht
Das Gefühl, dass es so nicht weitergehen konnte, war überwältigend. Selbst bei denen, die das Manöver des Präsidenten juristisch anzweifelten. Denn eigentlich darf er die Arbeit des Parlaments nicht einfach aussetzen. Auch können die Abgeordneten die Notwendigkeit der Maßnahmen eigentlich nach 30 Tagen vom Verfassungsgericht überprüfen lassen. Doch das existiert nicht, weil sich die Parteien seit sieben Jahren um seine Besetzung streiten. Dass mehr als 80 Prozent der Bevölkerung den Notstand zunächst begrüßte, findet die Journalistin Ghaya Ben Mbarek daher eine völlig nachvollziehbare Reaktion:
"Unter Premierminister Mechichi gab es Massenverhaftungen, Polizeigewalt. Die Regierung und das Parlament haben nicht funktioniert. Anderswo auf der Welt haben Leute ihre Covid-Booster-Impfung bekommen und hier war noch nicht mal das Krankenhauspersonal geimpft. Ich war in Kairouan, dem Ort, an dem es am schlimmsten war. Die Leute sind vor dem Krankenhaus gestorben, das Personal war nicht geimpft, das Krankenhaus überfüllt. Da hatte ich an einem gewissen Punkt den Eindruck: Irgendjemand muss etwas unternehmen. Wie sich die Situation seitdem entwickelt hat, wie Kais Saied agiert, das ist eine andere Sache."
Ghaya Ben Mbarek hat die Proteste des vergangenen Jahres als Journalistin begleitet. Die 26-Jährige arbeitet freiberuflich, meistens für eine kleine unabhängige Website, die auf arabisch und englisch berichtet. Seit November letzten Jahres war sie auf fast jeder Demonstration in Tunis. Die erste ging nur wenige Meter von ihrem Stammcafé entfernt los, wo sie heute sitzt. Anfang des Jahres nahm dann die Anzahl der Proteste vor allem aus wirtschaftlichen Gründen zu.
Einschüchterung von Journalisten
Ghaya Ben Mbarek wurde aufgefordert, ihr Videomaterial von den Protesten zu löschen. Unter Druck, eingekesselt von Sicherheitskräften. Die schlugen damals oft brutal zu, erzählt die zierliche junge Frau. Doch die alten Reflexe der Polizei kommen auch heute noch durch.
"Vor kurzem, nach dem 25. Juli, wurde ich massiv bedrängt, dabei hatte die Demonstration gar nichts mit dem Präsidenten zu tun. Wir wurden geschubst und geschlagen, sie haben Pfefferspray eingesetzt und ich wurde auf den Boden geworfen."
Vielen Medienschaffenden ergeht es in diesen Tagen ähnlich, bestätigt auch der tunesische Journalistenverband. Nachdem der Präsident den Notstand ausgerufen hatte, setzte er in einem weiteren Schritt am 22. September fast die ganze Verfassung außer Kraft und regiert inzwischen per Dekret.
"Am Anfang fand ich es zu früh, die Situation als Putsch zu bezeichnen. Aber seit den jüngsten Entwicklungen bin ich sehr misstrauisch, was Saieds Intentionen angeht. Wir bewegen uns in eine gefährliche Richtung. Jetzt müssen wir uns definitiv Sorgen machen – als Journalisten, als Bürger, als Tunesier."
Das Versprechen lautete: Mehr direkte Demokratie
Nicht weit von Ghaya Ben Mbareks Stammcafé haben auch eine paar junge Männer ihr inoffizielles Hauptquartier. In einem kleinen, schwach ausgeleuchteten Café im ehemaligen Kolonialviertel der Hauptstadt treffen sich regelmäßig ehemalige Wahlkampfhelfer von Präsident Kais Saied.
Faouzi Daas war 2019 so etwas wie der inoffizielle Wahlkampfmanager von Saied. Mit ihm und einer Reihe Freiwilliger war Saied damals durchs ganze Land gezogen, um seine Vision eines neuen Tunesiens zu propagieren. Der inzwischen 63-jährige, parteilose Juradozent galt damals als Außenseiter. Trotzdem konnte er in der Stichwahl fast drei Viertel der Stimmen auf sich vereinen. Auch heute noch erklärt Daas voller Überzeugung, wie das neue politische System der direkten, lokalen Demokratie aussehen sollte, dass sie damals erdacht hatten.
Überwachung durch die Zivilgesellschaft, Volksentscheide bei großen nationalen Fragen, in jedem Stadtviertel basisdemokratisch gewählte Volksvertreter, die dann aus ihrer Mitte jemanden in die nächsthöhere Ebene wählen, bis ganz nach oben ins Parlament. So sah das Idealbild aus, das Daas, Saied und viele andere von einer neuen tunesischen Demokratie entworfen hatten. Nur wurde dieses System nie umgesetzt. Der parteilose Präsident hätte dafür im Parlament nie eine Mehrheit bekommen. Durch das Notstandsrecht ist er nun nicht mehr auf die Abgeordneten angewiesen. Jetzt, so verkündete es Kais Saied Ende September, sollen Fachleute ein neues Wahlrecht und ein neues politisches System erarbeiten. Ob sie sich das basisdemokratische Modell zum Vorbild nehmen? Daas zuckt mit den Schultern:
"Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Wir hatten damals diese Idee, die von den Tunesiern ausführlich diskutiert wurde. Was die Kommission, die der Präsident einsetzen wird, vorschlagen wird, das weiß ich nicht."
Saied genießt einen Vertrauensvorsschuss
Der 37-jährige Bauunternehmer Faouzi Daas hat Kais Saied 2011, nur wenige Tage nach der Revolution, kennengelernt. Damals hatten Hunderte junge Leute den Platz an der Kasbah, dem Regierungssitz in Tunis besetzt, um weitreichende politische Reformen zu fordern. Kais Saied war dort oft zu Besuch. Ein gern gesehener Gast, denn er nahm die jungen Leute ernst, die hauptsächlich aus dem Landesinneren gekommen waren. Stundenlang diskutierte er mit ihnen. Seit das Staatsoberhaupt im Präsidentenpalast in Karthago sitzt, hat der Kontakt nachgelassen.
"Es ist ja gar nicht seine Aufgabe, ständig mit uns in Kontakt zu sein", sagt Faouzi Daas. "Wir waren Freiwillige und verlangen nicht noch mehr, als dass er die Last trägt, das Land zu regieren. Er ist heute der Präsident aller Tunesier. Wir können ihn nur unterstützen."
Während des Gesprächs hält ein Polizeimotorrad vor dem Café. Der Beamte beobachtet, wartet ab. Fährt nach einer Viertelstunde wieder weg. Vor Kurzem ist Daas abends festgenommen worden, angeblich wegen des Verstoßes gegen die Ausgangssperre. Auf der Wache wurde er verprügelt, dann wurde Anzeige gegen ihn wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt erstattet. Die Reform von Justiz und Sicherheit sei mehr als überfällig, findet er. Dass Kais Saied das schafft, davon ist Daas überzeugt.
"Wir vertrauen ihm. Die Tunesier haben sich der Diktatur entledigt und werden nicht zu ihr zurückkehren. Selbst wenn Kais Saied einen diktatorischen Weg einschlagen würde, wie einige fürchten, bin ich überzeugt, dass das Volk seine Freiheiten und die Demokratie nicht aufgeben würde."
Zu Hause statt im Plenarsaal
Die Abgeordneten, die der Präsident kaltgestellt hat, die ihre Immunität und ihre Diäten verloren haben, hätten ihre Legitimität verspielt, findet er. Politische Machtspielchen und Streitereien bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen im Plenarsaal hätten sie die Glaubwürdigkeit gekostet.
Eine von diesen Abgeordneten ist Saida Ounissi. Bis Ende Juli verbrachte die 34-Jährige für Ennahdha die meiste Zeit im Parlament. Jetzt ist sie viel zu Hause:
"Das verursacht eine fürchterliche Leerstelle. Von einem Leben bei zweihundert Stundenkilometern zur Suspendierung. Das fühlt sich an, als ob man mit einem Rennwagen auf einmal in eine Mauer kracht."
Die Familie von Saida Ounissi musste Tunesien verlassen, als sie noch klein war. Die Islamisten wurden damals in Tunesien von Machthaber Ben Ali verfolgt. Saida Ounissi ist in Frankreich aufgewachsen. Ihre Doktorarbeit in Politikwissenschaften an der Sorbonne legte sie auf Eis, als sie 2014 ins tunesische Parlament gewählt wurde. Zwei Jahre später wurde sie zunächst Staatssekretärin für Berufsbildung, dann Arbeitsministerin.
Ein bisschen wie unter Ben Ali
Am 25. Juli wollte sie gerade ihre Tochter ins Bett bringen, als Kais Saied den Notstand ausrief.
"Ich hatte an diesem Abend sehr große Angst. Ich hatte den Eindruck, dass es wieder so ein bisschen wird wie unter Ben Ali, wo die Leute für irgendwelche Schauprozesse zu Hause abgeholt wurden. Eingesperrt wurden, weil sie einer anderen politischen Richtung angehörten. Jetzt befinden wir uns wieder in einer Situation, wo der Staatschef alle Macht in den Händen hält."
Dabei hat die Staatskrise im Land auch mit ihrer Partei zu tun. Schon seit Jahren wächst die Wut der Bevölkerung über Ennahdha, nicht erst seit den Wahlen 2019. Gleichzeitig kriselt es auch innerhalb der Partei schon seit Längerem. Einige prominente Köpfe haben sie bereits verlassen. Und auch Saida Ounissi geht mit ihrer eigenen Partei hart ins Gericht. Diese habe Fehler gemacht, ihre politischen Gegner unfair behandelt, um der Stabilität willen den Wählerwillen missachtet. Bereits im Wahlkampf 2019 war klar, dass es so nicht weitergehen könne.
"Sogar diejenigen, die für uns stimmen wollten, haben gesagt: Das ist eure letzte Chance. Diesen Frust, selbst an der Parteibasis, den haben wir gespürt. Das war wie in einer Familie, wo man sich eine letzte Chance gibt."
Noch steht die Mehrheit hinter dem Präsidenten
Im Gegensatz zu anderen kritischen Stimmen will sie Ennahdha aber nicht den Rücken kehren, sondern von innen reformieren. Sie finde sich noch wieder in der Partei, in die sie seit Beginn ihres Mandats viel investiert, für die sie aber auch viel aufgegeben hat:
"Ich habe den Eindruck, dass ich fürchterlich gescheitert bin. Dass diese Jahre keinen Einfluss gehabt haben. Dass ich sozusagen seit sieben Jahren Wasser in einen Eimer voller Löcher gieße. Es ist der Politik nicht gelungen, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Demokratie etwas Positives ist. Vielleicht ist einfach die Zeitspanne zu kurz, um das alles zu bewerten. Was in unserem Land passiert, ist noch nicht zu Ende. Die Halbzeitbilanz ist ziemlich beschämend, aber der 25. Juli hat erlaubt, in diesem Land den Abszess aufzubrechen. Offenzulegen, dass die politische Praxis den Nährboden dafür bereitet hat, dass so jemand wie Kais Saied so offen aufgenommen wird. Dafür müssen wir die Verantwortung übernehmen, denn wir sind einer der Akteure. Wir müssen trotzdem weiter Wasser nachfüllen und unseren Mitbürgern vertrauen."
Noch weiß Präsident Kais Saied die Mehrheit dieser Mitbürger hinter sich. Dass Saida Ounissi und die 216 anderen gewählten Abgeordneten nochmal ins Parlament zurückkehren, ist unwahrscheinlich – zumindest nicht in dieses und nicht in absehbarer Zeit. Bis zu einem Referendum über ein neues Wahlrecht und ein neues politisches System soll eine Übergangsregierung das Land führen. Ohne Parlament.