Türkisches Kulturleben 2018

Vor allem die Jugend macht dem Regime Angst

Blick auf Bosporus vom Szeneviertel Cihangir aus gesehen, Istanbul
Blick auf den Bosporus vom Istanbuler Szeneviertel Cihangir aus gesehen. © imago stock&people/ Ali Kabas / Danita Delimont
Susanne Güsten im Gespräch mit Britta Bürger  · 30.12.2018
Die Freiräume für Journalisten und Kulturschaffende in der Türkei sind 2018 noch weiter geschrumpft. Dennoch bleibt unsere Korrespondentin Susanne Güsten optimistisch, dass sich Mut, Widerstandsgeist und Kreativität auf Dauer nicht unterdrücken lassen.
Die Medien werden inzwischen in der Türkei überwiegend von der Regierung dominiert, die Theaterszene bietet hingegen noch Nischen der Freiheit. Aber auch da hat der Druck in diesem Jahr zugenommen, sagt unsere Korrespondentin Susanne Güsten. Schon im Januar sei das Stück "Der Diktator" verboten worden. Nun sei vor wenigen Wochen ein Haftbefehl gegen einen prominenten Theaterregisseur erlassen worden, der in einem anderen Theaterstück vor fünf Jahren den Widerstand der Protestbewegung gegen den Diktator gezeigt hatte: "Der hat des Landes fliehen müssen und kann nicht mehr nach Hause kommen."

Das Interview im Wortlaut:

Britta Bürger: Wir haben es gestern gemeldet: Gerade wurden gegen den türkischen Fernsehjournalisten Fatih Portakal Ermittlungen eingeleitet, weil er in seiner Sendung zum friedlichen Protest aufgerufen hatte. Er hatte die Frage aufgeworfen, ob der Protest der französischen Gelbwesten auch ein Vorbild für die Türkei sein könne. Portakal bekam umgehend den langen Arm Erdogans zu spüren. Im Jahr 2018 sind die Freiräume für Journalisten und Kulturschaffende in der Türkei weiter beträchtlich eingeschränkt worden. Wir wollen an die wichtigsten Ereignisse erinnern, im Gespräch mit der Korrespondentin Susanne Güsten. Schönen guten Abend in Istanbul!
Susanne Güsten: Hallo, Frau Bürger!
Bürger: Beginnen wir mit Blick auf die noch bis zum letzten Jahr sehr lebendige Theaterszene. Für viele war das eine Alternative zu den gleichgeschalteten Medien. Wie kritisch kann Theater noch sein in der Türkei?
Güsten: Immer weniger. Das hat sich in diesem Jahr ganz deutlich gezeigt. Und zwar begann das schon mit Jahresbeginn, ein ganz krasser Einschnitt. Weil eigentlich war die Theaterszene, wie Sie sagen, noch so ein Freiraum, in den sich die Leute zurückzogen, weil die Medien sind ja zu 90 Prozent dominiert von der Regierung. Da gibt es keinen Diskurs mehr, da gibt es nur eine Einheitsmeinung.
Deswegen war Theater noch so ein Raum, wo man sich abends kuschelig rein zurückziehen konnte und dann noch Kritik üben und unter sich sein. Das Theater hier ist sehr frech und sehr lebendig und hatte eigentlich einen riesigen Zulauf bekommen, gerade durch diese Situation in den letzten zwei, drei Jahren. Aber in diesem Jahr ging es dann los, also gleich im Januar ging es damit los, dass ein Theaterstück verboten wurde, das den Widerstand gegen einen Diktator darstellte. Das Stück hieß "Der Diktator", und das wurde von oberster Stelle krumm genommen.
Recep Tayyip Erdogan spricht bei der Eröffnung der DITIB-Zentralmoschee. Er hebt die Hände.
Unter der Präsidentschaft von Recep Tayyip Erdogan wird auch für Theatermacher der Spielraum immer kleiner. © dpa / Henning Kaiser
Da wurde tatsächlich die Polizei losgeschickt, die hier in einem Istanbuler Stadtteil Theater für Theater abgesucht hat, um das Stück zu finden und es zu unterbinden. Und das ging das ganze Jahr so weiter. Dieses Stück hat versucht, auf Tournee zu gehen, wurde immer wieder verboten. Und jetzt, vor einigen Wochen, ist sogar ein Haftbefehl erlassen worden gegen einen prominenten Theaterregisseur, der in einem anderen Theaterstück vor fünf Jahren den Widerstand der Protestbewegung gegen den Diktator gezeigt hat. Der hat des Landes fliehen müssen und kann nicht mehr nach Hause kommen.
Bürger: Wer ist das?
Güsten: Der heißt Ali Memet Alabora, das war der Regisseur von dem sehr bekannten Stück "Mi Minör". Das war ein interaktives Stück, und das war auch deshalb sehr erfolgreich, weil das Publikum mitmachen konnte. Und das zeigte eben einen Diktator, der die ganze Macht an sich raffte. Eigentlich sehr hellsichtig. Das war schon vor fünfeinhalb Jahren auf der Bühne, lange bevor es so weit gekommen ist, wie es jetzt ja auch tatsächlich gekommen ist in dieser Präsidialrepublik, dass ein Präsident alle Macht im Staat auf sich vereint hat.
Das hat das Stück schon vor fünfeinhalb Jahren auf die Bühne gebracht, aber auch den Protest dagegen. Wie ein Musiker mit einer verbotenen Note, die er spielt, das "e" – "e-Moll" heißt das Stück – eine Protestbewegung inspiriert. Und deswegen wird ihm heutzutage von der Staatsanwaltschaft jetzt versuchter Umsturz des Staates vorgeworfen. Er habe damit quasi eine Generalprobe für die Gezi-Proteste inszeniert, wird ihm vorgeworfen. Und die Gezi-Proteste, sagt die Staatsanwaltschaft und Justiz wiederum, seien der Versuch, die Regierung zu stürzen, und deswegen wird das strafrechtlich verfolgt wie ein Putschversuch.

Terrorismus-Vorwürfe

Bürger: Diesen Vorwurf hören wir ja immer wieder. Es gab auch Festnahmen und Haftbefehle in diesem Jahr gegenüber Filmregisseuren. Viele werden ohne offizielle Anklage festgehalten. Aber diese Vorwürfe ähneln sich eben immer wieder, dieses Stichwort "Umsturzversuch". Welche Filmschaffende sind ins Visier der Erdogan-Regierung geraten?
Güsten: Die mir jetzt zuletzt einfallen aus jüngster Zeit, da ist der Vorwurf "Terrorpropaganda". Es wird nicht direkt das Schaffen derjenigen angegriffen, sondern es wird ein strafrechtlicher Vorwurf gemacht. Zum Beispiel sagt die Türkei, Journalisten sitzen nicht hinter Gittern, weil sie Journalisten sind, sondern weil sie Terroristen sind. Und genauso wird bei diesen Filmregisseuren, die sind meistens aus der kurdischen Szene, wann immer es um Kurden geht, kurdische Kunst, Kultur, Journalismus, dann wird Terrorpropaganda zum Vorwurf gemacht.
Das heißt, sie hätten sich zum Werkzeug der PKK gemacht, indem sie gleichgerichtete Interessen vertreten. Das war ein kurdischer Filmregisseur jetzt kürzlich, der hat Filme über die Sache gemacht. Das ist dann schon ein Vorwurf, Propaganda für eine Terrororganisation, nämlich die PKK. Genauso bei den Leuten, die die Gezi-Proteste unterstützt haben.
Bei dieser ganzen Szene, und da sind ja sehr viele Kulturschaffende dabei, also Architekten und Musiker und Künstler, da heißt es dann immer Umsturz, Versuch, die bestehende Regierung zu verändern. Und das ist ja inzwischen, heutzutage auch mit demokratischen Mitteln strafbar. Also, Umsturzversuch ist auch der Versuch, bei den Wahlen eine Regierung zu verändern, laut Staatsanwaltschaft.

Mutig und unerschrocken

Bürger: Was ist denn aus dieser großen Gruppe der Gezi-Unterstützerinnen und -Unterstützer geworden? Hat man all diese Menschen verängstigt und zum Schweigen gebracht?
Güsten: Nein. Das ist schon sehr bemerkenswert. Wenn man jemanden nimmt wie die Architektin und Städteplanerin Mücella Yapici, eine ältere Dame inzwischen schon, die also völlig unerschrocken, obwohl gegen sie auch ermittelt wird, obwohl sie auch im Morgengrauen zum Verhör geholt wurde, die immer noch und seit Gezi unermüdlich weiter auftritt, kritisiert, auch gehört wird, weil sie eben sehr qualifizierte Kritik üben kann, aber die sich mitnichten einschüchtern lässt. Und so ist es auch mit vielen anderen Menschen, die teilweise auch schon hinter Gittern sitzen. Aber das lässt sich nicht einfach wegverbieten, diese Bewegung.
Bürger: Besonders symbolisch wichtig war der Abriss des Atatürk-Kulturzentrums in diesem Jahr. Wofür stand dieser Kulturpalast am zentralen Taksim-Platz in Istanbul?
Güsten: Das war tatsächlich das Symbol der Machtwende im kulturellen Bereich. Dieses Atatürk-Kulturzentrum ist über Jahrzehnte gebaut worden, ist von den Republikgründern schon avisiert worden. Es gab dann ein paar Probleme, aber es symbolisierte immer das Streben der Türkei nach Europa im kulturellen Bereich. Es war ein Theaterhaus, ein Opernhaus, ein Konzerthaus, alles in einem. Es hatte viele Bühnen, es war ein Riesenklotz.
Das alte Atatürk-Kulturzentrum in Istanbul, daneben eine türkische Flagge.
Das alte Atatürk-Kulturzentrum in Istanbul galt als Symbol der Gezi-Proteste und wurde abgerissen.© picture alliance / Can Merey/dpa
Ob man das jetzt architektonisch besonders gut fand, ist Geschmackssache, aber es symbolisierte auf jeden Fall das Weststreben der Türkei. Und im selben Sinne hatte ja Atatürk mehrere Komponisten nach Europa entsandt, um sie in der europäischen Musik ausbilden zu lassen. "Die großen Fünf" nennt man sie heutzutage noch. All das sollte in der Kultur die türkische Identität und die Zugehörigkeit zum Westen, zu Europa symbolisieren. Und das ist in diesem Jahr eben relativ zackig – im März hat es begonnen, im Sommer war es schon rum –, das ganze Kulturzentrum, obwohl es denkmalgeschützt war, ist abgerissen worden. Gut, die Regierung will ein neues bauen.
Es hieß, im November sollte der erste Spatenstich getan werden. Das ist jetzt nicht getan worden. Im Moment heißt es, er würde im Februar getan. Und die Entwürfe sehen in der Tat gar nicht so schlecht aus. Wenn das Versprechen gehalten werden, könnte das schon ein neues, schönes Kulturzentrum werden. Nur, was im Moment passiert, ist, dass gegenüber dort – am Taksim klafft ein riesiges Loch, wo dieses Kulturzentrum war –, und zugleich wächst auf der anderen Seite vom Taksim eine große Betonmoschee hoch. Gegen eine Moschee ist ja vielleicht nicht unbedingt was einzuwenden am Hauptplatz von einem muslimischen Land, aber es ist halt wieder so ein 08/15-Abguss nach osmanischem Vorbild, weder besonders fantasievoll noch irgendwie besonders kulturell inspiriert. Es ist vor allem Beton.

Ausflug mit staatstreuen Künstlern

Bürger: Und es bleibt natürlich auch die Frage, in diesem Kulturzentrum gegenüber, in diesem neuen geplanten, was da eigentlich stattfinden soll, was für einen Kulturbegriff die türkische Regierung inzwischen hat. Was stellt sie sich unter kulturellem Leben vor?
Güsten: Ja, das ist interessant, und das zeigte sich eigentlich in diesem Jahr am besten an einem Ausflug, den der Staatspräsident Erdogan im April gemacht hat, an die syrische Grenze, zu den Truppen, als die türkischen Truppen nach Syrien einmarschiert sind, in der "Operation Olivenzweig". Dort hatte er eine Truppe von Künstlern dabei, also von Sängern, Schauspielern, Musikern. Zwei Dutzend vielleicht.
Die haben ihn begleitet und haben da an der Grenze, während Erdogan im Kampfanzug da die Truppen abging, haben sie ihn mit Lieder begleitet und zusammen mit ihm gesungen. Und Erdogan sagte damals zu ihnen: Ihr seid die wahren Künstler dieses Landes. Wir haben lange genug Künstler gehabt, die von den Werten dieser Nation entfremdet waren und ihnen feindlich gesonnen waren. Aber, und so sagt er wörtlich, "Gott sei Dank werden es jetzt von Tag zu Tag weniger, und ihr seid die wahren Künstler dieses Landes."
Und das ist halt Volksmusik, das sind irgendwie Inszenierungen, Nachstellungen des Widerstands gegen den Putschversuch vor zwei Jahren. Es ist, wie der Kulturminister in einer Rede irgendwann in diesem Jahr sagte, der Versuch, eine nationale – sie nennen das "nationale und heimische" Kultur zu schaffen. Man könnte es überspitzt und böse gesagt auch "völkisch" nennen, was man versucht, zu schaffen.

Missbrauch des Strafrechts

Bürger: Aber es scheint ja, dass so was eigentlich an den Interessen der jungen Generation in der Türkei komplett vorbeigeht. Anfang Januar soll eine neue Studie des türkischen Forschungsinstituts Konda veröffentlicht werden, aus der einige Details jetzt schon vorab in der "Süddeutschen Zeitung" zu lesen waren. Danach sind die Jugendlichen zwischen 15 und 29 deutlich weniger konservativ als vor zehn Jahren. Wie reagiert das Regime Erdogan auf diese urbane, weltoffene, europafreundliche Jugend?
Güsten: Einigermaßen panisch und mit dem Versuch, Kontrolle darüber zu gewinnen. Denn das macht dem Regime natürlich am meisten Angst. Gerade in der Jugendkultur gibt es einen großen Bereich, wo die Regierung nicht mehr reinsehen kann, wo die überhaupt nicht verstehen, wovon die Jugendlichen da reden. Und deswegen wird da auch mit der Faust draufgehauen.
Der türkische Rapper Ezhel grüßt seine Fans nach seiner Freilassung aus der Haft im Juni 2018.

Sercan Ipekcioglu, better-known as rapper "Ezhel," salutes his fans after being released from the prison in Istanbul, Tuesday, June 19, 2018. A court in Istanbul has acquitted Ezhel of the charge of inciting drug use in his song lyrics and video clips. Ipekcioglu was detained by narcotics police in Istanbul last month and later charged with encouraging drug use.(DHA- Depo Photos via AP) |
Der türkische Rapper Ezhel grüßt seine Fans nach seiner Freilassung aus der Haft im Juni 2018. © dpa
Eigentlich der berühmteste Rapper dieses Landes, Ezhel, der hat im Sommer, im Mai ist er verhaftet worden, halt einen Monat hinter Gittern gesessen, ist am Ende dann freigesprochen worden wegen, und da ist wieder der Vorwurf, wieder der konstruierte Vorwurf "Verherrlichung von Drogenkonsum".
Man findet also im Strafrecht immer irgendwas, was passt. Und unter dem gleichen Vorwurf sind jetzt erst kürzlich in diesem Monat einige YouTube-Künstler, Videokünstler verhaftet worden, auch junge Leute von Anfang 20, die auf ihren YouTube-Kanälen Hunderttausende, fast eine Million Anhänger haben, die Satire machen, die Sketche machen, Parodien, wo ganz groß drunter steht, Achtung, das ist Satire, das ist Parodie, das ist Comedy, das ist nicht ernst zu nehmen. Aber die auch abgeholt wurden und vor Gericht gestellt wurden.
Einer ist jetzt auch zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden, und seine Freundin weinte sich neulich aus auf Twitter und sagte, man kann in diesem Land wirklich nicht mehr den Kopf hochheben, man kann nicht aus der Reihe tanzen. Wenn man nicht einfach konform ist mit der Ideologie, mit dieser nationalen, heimischen Kultur, die der Regierung vorschwebt, dann wird man abgehakt.
Bürger: Gibt es irgendetwas, Frau Güsten, das Ihnen Hoffnung macht?
Güsten: Ja. Die Menschen dieses Landes, die Kulturschaffenden, die Künstler, die Jugend. Es ist nicht so einfach, da mit der Faust draufzuhauen. Es ist ein ungeheurer Mut, hier ist eine ungeheure Kreativität, es ist ein ungeheurer Widerstandsgeist. Ich glaube nicht, dass ein Land wie die Türkei und eine Kulturszene wie die von Istanbul mit einfach so plumpen Mitteln runterzumachen ist. Da wächst immer wieder Gras zwischen den Pflastersteinen hoch.
Bürger: Weiter unter Druck stehen Kulturschaffende in der Türkei. Susanne Güsten mit einer Bilanz des Jahres 2018. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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