Tür an Tür mit dem Mörder der Familie

Von Simone Schlindwein |
Vor 16 Jahren kam das Grauen nach Ruanda. In wenigen Wochen wurden hunderttausende Menschen grausam massakriert. Dem Völkermord folgte eine beispiellose Aufarbeitung der Verbrechen: In rund 12.000 Dorfgerichten, den sogenannten Gacacas, wurden über eine Million Täter verurteilt. Weil die Gefängnisse des Landes überfüllt waren, mussten viele Täter in ihre Dörfer zurückkehren und um Gnade bitten. Dort leben sie nun Tür an Tür mit Überlebenden der Massaker – auch eine Folge der Politik der verordneten Versöhnung, für die Präsident Kagame steht.
Matthieue Sedangiye schaukelt den kleinen Emmy auf dem Arm. Er sitzt in der Hütte der Nachbarin Jeannette auf der Holzbank, und versucht ihren Sohn zu beruhigen. Jeannette rührt am Ofen einen Brei an. Gleichzeitig macht sie sich für die Kirche schick und feilt ihre Nägel. Wenn sie zu Sedangiye und ihrem Sohn hinüberblickt, lächelt sie. Dass sie ihn auf Emmy aufpassen lässt, ist nicht selbstverständlich. Auch für Sedangiye nicht.

Matthieue Sedangiye: "Sie ist eine Überlebende des Genozids und ich bin ein Täter. Unsere Nachbarn sind alle Überlebende oder Täter. Jeannette hat niemanden, der ihr mit den Kindern hilft. Jetzt helfe ich ihr. Ihre Kinder spielen mit meinen Kindern. Wir leben glücklich zusammen."

Das ruandische Dorf Mbyo liegt nicht weit von der Hauptstadt Kigali entfernt. Wie die meisten liegt es hoch oben auf einem Hügel. Am Hang sind Äcker und Felder bestellt. Dort bauen die Einwohner von Mbyo Mais, Kartoffeln und Cassava an – eine Wurzel, aus der Mehl gemacht wird.

Mbyo besteht aus 45 Häusern, jeweils von einer Großfamilie bewohnt. Sie sind erst in den vergangenen Jahre neu gebaut worden, da das alte Dorf durch den Bürgerkrieg völlig zerstört war. Die Häuschen, die in der Regel aus zwei Zimmern und einer Koch-Nische bestehen, sind immerhin aus Ziegelsteinen gefertigt. Mit ihrem grünen Wellblechdach sehen sie moderner aus, als die Lehmhütten, die sonst das Bild vom ländlichen Ruanda prägen.

Zwischen den Häusern stehen große, schwarze Wassertanks, deren Leitungen direkt in die Häuser führen. Auch eine Neuerung, die nicht unbedingt üblich ist in Ruanda. So gesehen ist Mbyo kein typisches Dorf in Ruanda. Aber wie woanders auch wohnen in Mbyo Tutsi, die den Völkermord vor 16 Jahren überlebt haben, Tür an Tür mit Hutus, den Mördern ihrer Verwandten und Freunde. Sie teilen den Wassertank, bestellen gemeinsam die Maisfelder, gehen in dieselbe Kirche. Mbyo ist ein Modell-Projekt – initiiert von der Regierung und von christlichen Organisationen. Ein Experiment zur Wiedervereinigung der ruandischen Gesellschaft.

Während Jeannette in der Kirche ihrer ermordeten Verwandten gedenkt, füttert Sedangyie ihren Sohn Emmy. Er ist ein hagerer Mann mit einem Gesicht ohne Lächeln, dem anzusehen ist, dass auch ihn die Vergangenheit nicht loslässt. Sedangyie hat damals, im April 1994, die Familie des Pfarrers umgebracht. Selbst den 4-jährigen Sohn. Eine solche Brutalität, auch gegenüber Tutsi-Kindern war typisch für den Völkermord in Ruanda, dessen Ziel war, die Gruppe der Tutsi endgültig auszurotten.

Matthieue Sedangiye: "Der Bürgermeister hat gesagt, wir müssen unser Land verteidigen. Wir müssen die Tutsis umbringen, sonst töten sie uns. Sie haben uns Macheten gegeben und gesagt, wen wir töten sollen. Wir durften anschließend deren Häuser und Felder übernehmen. Ich war ein armer Bauernsohn. Das war ein guter Grund, es zu tun."

Sedangyie fühlt sich für sein Tun bis heute nicht verantwortlich. Denn, so betont er, er habe keine Wahl gehabt, weil er bei Befehlsverweigerung ebenfalls umgebracht worden wäre. In wenigen Tagen töteten Hutus wie Sedangiye allein in der Gegend um Mbyo über 20.000 Tutsis, darunter 14.000 Frauen und Kinder, die in der Kirche Schutz gesucht haben. Drei Tage lang dauerte das Blutbad.

Jeannette kann sich noch genau an den Tag erinnern, als die Mörder nach Mbyo zurückkamen:

"Als die Mörder zurückkamen, hatte ich Angst, dass sie uns endgültig umbringen. An dem Tag saßen wir getrennt in der Mitte des Dorfes: Hutus auf der einen, Tutsis auf der anderen Seite. Der Priester hat gesagt, wir sollen vergeben, sonst wird Gott uns nicht verzeihen. Das hat mir geholfen, in die Zukunft zu blicken."

Bei diesem Treffen mussten die Täter öffentlich ihre Taten gestehen, die Überlebenden um Verzeihung bitten. Dabei hat Jeannette erfahren, dass ihr Nachbar ihre Eltern und Geschwister umgebracht hatte. Heute sitzt sie neben ihm auf der Bank.

Jeannette: "Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals wieder neben einem Hutu wohnen könnte. Ich hatte viel Hass im Herzen. Doch er hat mir gleich geholfen. Als wir das Haus gebaut haben, hat er die Ziegelsteine gebrannt. Unsere Kinder haben vom ersten Tag an zusammen gespielt. Niemand hätte gedacht, dass das in Ruanda jemals möglich ist."

Jeannette und Sedangyie sind Beispiele, wie in Ruanda Opfer und Täter jeden Tag einen Schritt aufeinander zugehen. Ohne die Dorfgerichte, die sogenannten Gacaca, so sagen beide, wäre dieses Leben miteinander, Tür an Tür, allerdings nicht möglich.

Draußen vor der Hütte spielen ihre Kinder zusammen. Jeannette und Sedangyie wollen beide, dass sie in einer Gesellschaft aufwachsen, in der es keine Feindschaft zwischen Hutu und Tutsi mehr gibt. Doch ist beiden klar: Die Wiedervereinigung der ruandischen Gesellschaft ist eine Aufgabe für Generationen, auch weil der Kampf zwischen Hutu und Tutsi um die Macht und Einfluss in Ruanda sich seit der Kolonialzeit zu einem unversöhnlichen Hass zwischen den beiden Gruppen gesteigert hat. "Ruanda – das bist du und das bin ich." Vor allem in der Hauptstadt Kigali sind die Slogans präsent: Auf Plakaten, auf Aufklebern am Kofferraum der Autos, auf Motorrädern oder an Straßenlaternen.

Kigali boomt. An jeder Straßenecke wird gebaut: Bürogebäude, Hotels, Tankstellen, Einkaufszentren entstehen. Es ist kaum zu übersehen: Wirtschaftlich geht es in Ruanda steil bergauf. Kigali ist bereits flächendeckend mit schnellem, kabellosem Internetzugang ausgestattet. Die größte Solaranlage Afrikas wurde in Ruanda errichtet. Quer durch das Land verkehren Busse mit Biogas-Antrieb. Aufgrund einer im Vergleich geringen Korruption haben sich auch ausländische Investoren in Ruanda niedergelassen.

Paul Kagame rühmt sich gern, Ruanda zu einem boomenden Vorzeigeland entwickelt zu haben. Oppositionspolitiker kritisieren allerdings, dass trotz der Politik der verordneten Versöhnung unter Präsident Kagame, der selber Tutsi ist, Hutu in Ruanda keinen Zugang zur wirtschaftlichen und politischen Elite erhalten. Für viele von ihnen sind die Prozesse in den Dorfgerichten eine Art Siegerjustiz. Unterstützt werden sie dabei auch von internationalen Menschenrechtsorganisationen, die die Dorfgerichte an internationalen Standards messen.

Justizminister Tharcisse Karugarama wischt solche Vorwürfe mit einer Handbewegung vom Tisch. Der große Mann sitzt in seinem Büro im Justizministerium in der Hauptstadt, gegenüber vom Parlament, in dessen Fassade noch immer Einschusslöcher zu sehen sind. Neben dem Justizministerium graben sich Baggerschaufeln in den Sand. Hier entsteht ein gigantisches Konferenzzentrum – ein Sinnbild für das neue, friedliche Ruanda, wie er sagt.

Ohne das Dorfgericht, den Gacaca, gäbe es heute keinen Frieden, erklärt der Minister:

"Die internationalen Organisationen, die uns kritisieren, haben niemals alternative Vorschläge gemacht, wie wir das Problem anders lösen können. Als der Genozid begann, sind alle davongelaufen. Heute kommen sie zurück, um uns Lektionen zu erteilen. Das ist sehr ignorant. Denn die Dorfgerichtsbarkeit hat uns geholfen, unsere Nation wieder aufzubauen und die Gesellschaft zu rekonstruieren. Unser wirtschaftlicher Aufstieg hat gezeigt, dass die Menschen in der Lage sind, aus der Vergangenheit zu lernen, um eine bessere Zukunft zu schaffen."

"Gacaca" bedeutet übersetzt das "Grasfeld". Traditionell ist damit die Wiese im Schatten eines großen Baumes gemeint. Dort versammelt sich seit Jahrhunderten die Dorfgemeinde, um Nachbarschaftsstreitigkeiten zu diskutieren, wobei die Dorfvorsteher als Richter fungierten. In diesem Jahr werden die Gacaca-Akten in Ruanda geschlossen. In Nyanza, hat der lokale Dorfrichter schon jetzt den Prozess für beendet erklärt.

Es ist ein friedlicher Samstagmorgen in dem verschlafenen Ort, der aus einer Reihe Lehmhäuser entlang einer matschigen, ungeteerten Straße besteht. Diedonne Uwayezu schlurft in Gummistiefeln durch die schlammigen Pfützen. Eben kommt der 36-Jährige von der wöchentlichen Gemeindeversammlung. Auf seinem Nachhauseweg bleibt Uwayezu immer wieder stehen, grüßt Nachbarn, tauscht Neuigkeiten mit dem Pfarrer aus und diskutiert mit der Frau, die in einer Wellblechbude Haushaltswaren, Bier und Eier verkauft.

Jeder im Dorf kennt Uwayezu und er kennt sie alle: Die Massenmörder, die Mitläufer und die Überlebenden der Massaker. Uwayezu hat alle Geständnisse gehört und alle Aussagen aufgenommen. Uwayezu ist Tutsi, einer der wenigen Zeugen, die das Massenschlachten in Nyanza überlebt haben. Heute ist er der oberste Richter im lokalen Dorfgericht, dem Gacaca.

In Nyanza hatten im April 1994 aufgehetzte Hutu-Milizen in der Grundschule rund 2500 Frauen und Kinder umgebracht. Heute wachsen lila Blümchen auf den Massengräbern rund um die Schule. Die Klassenzimmer, die einst blutverschmiert waren, wurden renoviert. Die Holzkreuze, die um die Schule herumstanden, sind verschwunden. Nur ein Denkmal mit den eingravierten Namen der Opfer erinnert an das Massaker.

In den wöchentlichen Gacaca-Prozessen wurden die Erinnerungen an den Völkermord lebendig gehalten. Wenn Uwayezu zurückdenkt und über die Grausamkeiten spricht, die die Täter in ihren Geständnissen erzählt haben, über die traumatisierten Zeugen, die er vernommen hat – dann steht ihm der Schmerz ins Gesicht geschrieben:

""Es war für mich sehr schwer, in manche Fälle auch noch persönlich involviert zu sein. Aber meine Aufgabe war es, die Täter zu richten. Ich musste neutral bleiben, sonst hätte ich meine Glaubwürdigkeit verloren. Ich denke, Gacaca hat uns Frieden gebracht. Denn viele der Täter sind nun aus dem Gefängnis zurück. Sie leben wieder unter uns. Auch die Täter, die ich verurteilt habe. Wenn ich sie heute im Dorf treffe, dann können sie mir nichts anhaben. Jeder kennt die Wahrheit, das beschützt mich vor deren Rache."

Die Wahrheit zu finden – das war das eigentliche Ziel der Dorfgerichte: Die Täter sollten ihre Taten gestehen, damit die Gebeine der Opfer endlich gefunden und bestattet werden können. Dafür erhielten die Täter Strafnachlass: Für die Hunderttausenden von Verurteilten hätte es in den Gefängnissen Ruandas ohnehin keinen Platz gegeben. Insgesamt wurden eine Million und zweihunderttausend Fälle im ganzen Land verhandelt, da bei vielen Morden mehrere Täter ein einziges Opfer töteten. Ordentliche Gerichte hätten das niemals bewältigen können. Fast acht Jahre lang tagten - mehrmals wöchentlich - in jedem Dorf die Gacaca-Gerichte.

Als erster Richter in Ruanda hat Uwayezu seine Gacaca-Akten geschlossen. 660 Fälle hat er in der Gemeinde verhandelt, 660 Urteile gesprochen – es war eine gewaltige Aufgabe, sagt er:

"Es war sehr wichtig, dass wir Richter selbst Augenzeugen der Verbrechen waren. Wir wissen genau, was in jenen Tagen hier passiert ist. Wichtig war auch, dass wir Richter gut zuhören, wenn wir die Täter vernehmen. Manche Menschen haben aus eigenem Antrieb getötet, manchen wurde befohlen, zu morden. Man muss hier sehr aufmerksam sein, um das richtige Urteil zu fällen."

Sie müssen lebenslang Sozialarbeit in ihren Gemeinden ableisten. Dies führt allerdings immer wieder zu Konflikten, sagt Uwayezu.

""Die Menschen sind sehr misstrauisch, wir haben viele Auseinandersetzungen in unserer Nachbarschaft. Zugegeben: Viele Täter kamen im Gefängnis zur Vernunft. Aber nicht alle. Manche Hutu können sich immer noch nicht vorstellen, mit Tutsi zusammenzuleben. Sie kommen nicht zu Hochzeiten oder anderen Feiern. Sie würden nie das Haus einer Tutsi-Familie betreten, selbst wenn sie Nachbarn sind. Für viele ist Versöhnung noch immer unvorstellbar. Aber es gibt auch positive Beispiele in unserer Gemeinde. Wir feiern Hochzeiten mit ethnisch gemischten Brautpaaren. Dies zeigt, dass wir die Vergangenheit hinter uns lassen können."

In den Dörfern gehe die Versöhnungsarbeit weiter – jeden Tag, erklärt Richter Uwayezu. Er trainiert nun die lokale Jugendfußballmannschaft und anstatt zur Gacaca versammelt sich nun die Gemeinde am Sonntagnachmittag auf dem Fußballplatz. Er sagt, dies sei auch ein Weg die Menschen zusammen zu bringen. Dann schlüpft er in sein Trikot und in seine Fußballschuhe und sprintet davon.


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