Tübingen

Grünes Erfolgsmodell für die Zukunft?

Porträtfoto von Boris Palmer, Oberbürgermeister Tübingen (Bündnis 90/Die Grünen)
Von seiner Partei teilweise als Besserwisser aus dem Südwesten abgetan: Boris Palmer, Oberbürgermeister Tübingen (Bündnis 90/Die Grünen) © picture-alliance / dpa-ZB / Karlheinz Schindler
Von Michael Brandt · 20.10.2014
Boris Palmers Wiederwahl als Oberbürgermeister in Tübingen zeigt, dass grüne Amtsinhaber bestätigt werden können. Was das für den innerparteilichen Richtungsstreit bedeutet, hängt jedoch von vielen Faktoren ab.
Boris Palmer, grüner Realo aus Baden-Württemberg, galt lange als Hoffnung bei den Grünen, als Aufsteiger im baden-württembergischen Landesverband, als einer der es zu höheren und höchsten Weihen bringen kann. In seiner Partei, aber vor allem in einem Regierungsamt. Landesminister, Bundesminister, Ministerpräsident.
Aber dann wurde er 2007 Oberbürgermeister seiner zweiten Heimatstadt Tübingen. Und es zeigte sich ein Phänomen, das häufig bei politischen Hoffnungsträgern zu beobachten ist, die in die Kommunalpolitik gehen. Sie konzentrieren sich auf die Arbeit in der Kommune, die Arbeit im Rathaus verändert ihre Sichtweise der Dinge - und natürlich die Perspektive auf die eigene Partei. Für einen Grünen eine neue Erfahrung, nicht mehr aus einer Minderheitenposition heraus zu argumentieren, sondern eigene Mehrheiten zu organisieren.
Nicht zuletzt dies führte dazu, dass sich das Verhältnis von Palmer zu seiner Partei und von den Grünen zu Palmer änderte:
"Boris Palmer und die Grünen. Das ist keine Freundschaft. Das wäre wenig intensiv. Das ist eine Hassliebe. Es gibt für mich keine andere Partei und ich mische deshalb so oft und intensiv und so vehement ein, weil sie mir wichtig ist, und weil ich leider in jüngerer Zeit häufig der Meinung war, dass sie sich auf einem Irrweg befindet. Der Steuerwahlkampf, der Moralinwahlkampf, das war eine Halbierung der möglichen Stimmenzahl. Und damit der Weg in die Opposition. Ich wollte dafür werben, dass wir möglichst stark werden und dann mit Angela Merkel das Land umgestalten. Ich werde mich da auch nicht zurückziehen, die Partei ist die einzige, für die ich brenne und deswegen mische ich mich ein."
Und zwar immer wieder mit sachlich meist richtige Analysen und Ratschlägen in Richtung der Bundespartei; die von dem vermeintlichen Besserwisser aus dem Südwesten aber immer weniger hören wollte und ihn 2012 schließlich aus dem Parteirat schmiss.
Selbstbewusstsein in Richtung Berlin
Palmer sieht die Grünen mittlerweile als mehrheitsfähige Partei, mit seiner erfolgreichen Wiederwahl mit einer für Kommunalwahlen bemerkenswerten Wahlbeteiligung von 55 Prozent, hat er zumindest in der Kommune den Beweis dafür erbracht, dass es funktionieren kann. Er beschreibt grüne Politik in der Universitätsstadt als ökologisch-soziale Wohlstandspolitik und formuliert das nach der Wahl mit zusätzlichem Selbstbewusstsein in Richtung Berlin:
"Wir haben in Tübingen eine breite Mehrheit gefunden, und die kommt aus guter Sacharbeit, hat auch etwas mit Persönlichkeitswahl zu tun, aber es geht auch um gesellschaftliche Mehrheiten. Und das Projekt, das wir hier zeigen können, das ist ökologisch-soziale Wohlstandspolitik und die hat breite gesellschaftliche Mehrheiten, weit über die acht Prozent, die Grüne derzeit bundesweit haben. Und dafür werbe ich in meiner Partei, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen und wesentlich stärker werden, um auch die Republik umzugestalten."
Unterstützung bekommt er von seinem Freund und Weggefährten, Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Kretschmann war gestern zum Gratulieren in Tübingen und ließ überhaupt keinen Zweifel daran, was er von Palmer hält:
"Er ist einer der klügsten und besten Köpfe, die die Grünen haben."
Und daran, dass die Bundespartei gut beraten wäre, auf Palmer zu hören:
"Auf jeden Fall. Er hat jetzt gezeigt, dass er in der zweiten Amtszeit noch mal sein Ergebnis auf über 60 Prozent verbessert hat. Das spricht ja für sich, wer erfolgreich agiert."
Jürgen Trittin ätzte schon vorher gegen Radikalrealos
Zu hören ist aus Berlin allerdings Widersprüchliches, was einen Hinweis auf den Zustand der Partei gibt. Parteichef Cem Özdemir, ebenfalls Realo aus Baden-Württemberg, gratuliert und Nicht-mehr Partei- und-nicht-mehr-Fraktionschef Jürgen Trittin ätzte schon vor der Wahlentscheid in einem Spiegel-Gespräch. Er spricht von Radikalrealos aus Baden-Württemberg, diesem "Waziristan der Grünen". Waziristan gilt als Brutstätte und Rückzugsraum der pakistanischen Taliban.
Einen wie Winfried Kretschmann, der Konfrontationen im Land und in der Partei zu vermeiden sucht und der stattdessen Kompromisse sucht, machen solche Äußerungen schlicht sprachlos:
"Kann ich nicht wirklich ernst nehmen."
Dabei war es doch gerade Kretschmann, der mit seiner Asylentscheidung im Bundesrat erstmals vor großem Publikum genau das deutlich gemacht hat, für das auch Palmer steht: Zuerst kommt mein Gemeinwesen, sei es die Stadt oder das Land, dann kommt die Partei und ihre Linie. Eine Position, um die sich Grünen bis dahin als kleiner Koalitionspartner in Bund oder Land oft herumwinden konnten.
In Baden-Württemberg hat Palmers klare Wiederwahl gezeigt, dass grüne Amtsinhaber bestätigt werden können. Ministerpräsident Kretschmann will natürlich nichts von einer Übertragbarkeit auf die Landespolitik wissen, aber natürlich stärkt der Erfolg Palmers die Position der Grünen in der Landesregierung. Und er erschüttert das Selbstbewusstsein der Landes-CDU erneut, und ihre Grundthese, dass die Grünen es einfach nicht können.
Ein wirtschaftsstarkes Gemeinwesen zu regieren und zwar so, dass es der Wirtschaft am Ende besser geht, und nicht schlechter. Boris Palmer hat das in Tübingen gezeigt, in Stuttgart spricht viel dafür, dass die grün-rote Regierung zumindest nicht über die Wirtschaftspolitik stolpert.
Schafft Kretschmann die Wiederwahl 2016?
Palmers Zukunft bleibt offen. Er selbst hat angekündigt, dass er weitere acht Jahre im Tübinger Rathaus bleiben will. Und nachdem er in den vergangenen acht Jahren trotz einiger Versuchungen geblieben ist, spricht viel dafür, dass er auch dieses Versprechen hält.
Was dann kommt, wird von vielen Faktoren abhängen: Schafft Kretschmann die Wiederwahl 2016 und braucht er dann einen Nachfolger? Schwenkt die Bundespartei auf die erfolgreiche baden-württembergische Linie ein oder macht sie weiter Trittin und Hofreiter?
Und nicht zuletzt: Schafft Palmer es, seine Analysen und Ratschläge in Richtung Berlin künftig so zu verpacken, dass die Bundespartei sie nicht als besserwisserische Querschüsse aus der Provinz abtun kann?
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