Trotzki kontrovers
Lange Zeit galt Leo Trotzki als einer der bedeutendsten politischen Führer der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt wegen seiner frühen Ermordung wurde eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Person gemieden. Jetzt lösen zwei britische Bücher eine überfällige Debatte aus.
Heiß gekocht wird das Thema Leo Trotzki heutzutage nicht gerade. Jedenfalls nicht in Deutschland, wo es nie eine nennenswerte politische Strömung gab, die sich mit dem Namen des großen Antipoden von Joseph Stalin verbindet. Das ist in Großbritannien anders, wo der Trotzkismus in der Labour Party immer eine gewisse, wenn auch abnehmende Rolle spielte.
Dieser Umstand macht einen Teil der Emotionen erklärbar, die Robert Service, Historiker aus Oxford, bei seiner umfangreichen, 2009 bei Harvard University Press auf Englisch erschienenen Trotzki-Biographie die Feder führten. Vor allen Dingen aber begleitete sie seine öffentlichen Auftritte. Der "Evening Standard" berichtete über eine Präsentation des Buches im Oktober 2009 und zitierte Service mit folgender Formulierung:
"Noch ist Leben in dem alten Kerl Trotzki - aber wenn der Eispickel nicht gereicht hat, ihn endgültig zu erledigen, habe ich das nun hoffentlich geschafft."
Das sind, vorsichtig formuliert, ziemlich markige Sprüche außerhalb jeder politischen Korrektheit. So etwas sagt man nicht, und es lässt sich auch kaum durch die bekannte britische Neigung zu drastischem Humor entschuldigen. Wie gesagt, bei Service sind, was Trotzki anbetrifft, offenbar erhebliche Emotionen im Spiel. Im Guardian schrieb er:
"Den ganzen Winter über wurde ich von Trotzkisten bei öffentlichen Veranstaltungen angegriffen. Sie bestätigten nur, dass mein Glaube, dass ein genuines öffentliches Interesse daran besteht, den alten Mann Trotzki mit klaren Augen zu sehen, richtig ist."
Nun ist das Buch bei Suhrkamp auf Deutsch erschienen und hat, ungewöhnlich, auch bei uns schon im Vorfeld erhebliche Turbulenzen verursacht. Vierzehn deutsche Historiker und Soziologen schickten sich in einem Brief an die Verlegerin Ulla Unseld-Berkewicz an, die Publikation zu verhindern. Sie warfen Robert Service unter anderem Antisemitismus vor. Das ist vielleicht doch etwas übertrieben.
So richtig gut ist Service’ Trotzki aber auch nicht. Erstens enthält es eine erhebliche Reihe von faktischen Fehlern, auf die schon der britische Trotzkist David North in verschiedenen Vorträgen und schließlich in einem ganzen Buch genüsslich aufmerksam gemacht hat. Suhrkamp hat einige Fehler der englischen Ausgabe stillschweigend korrigiert, falsche Datumsangaben etwa, aber bei weitem nicht alle.
Ferdinand Lassalle als deutschen Marxisten oder Eduard Bernstein als Liberalen zu bezeichnen, ist ebenso eigenwillig wie der Versuch, die frühen russischen Bundisten in die Nähe des Zionismus zu rücken. Der Organisator des Mordes an Trotzki hieß mit Vornamen Leonid und nicht Natan. Und so weiter.
Es ist darüber hinaus immer von Bedeutung, welche Fragen man sich stellt. Service’ Fragen sind sehr bescheiden. Zum Verständnis eines Jahrhunderts, das solche extravaganten Persönlichkeiten wie Leo Trotzki hervorgebracht hat, trägt sein Buch leider nur wenig bei.
Trotzki war eine Provokation für die konservativen Eliten seiner Zeit. Er kam quasi aus dem Nichts und war plötzlich der eigentliche Drahtzieher der erfolgreichen Oktoberrevolution. Er konnte, ohne militärische Erfahrung, eine Kriegsmaschine wie die Rote Armee in Bewegung setzen und vom Salonwagen seines "Trotzki-Zugs" aus dirigieren.
Er konnte mit Surrealisten korrespondieren und war ein begnadeter Stilist, was ihm viel Sympathie bei Intellektuellen eingebracht hat. Er selbst empfand sich als ein Beispiel des Neuen Menschen, der sich nun mit Gewalt und in permanenter Revolution auf dem Erdball verbreiten sollte. Solche Hybris machte ihn aber gefährlich, nicht weniger als seinen Antipoden Stalin. In dieser Frage hat Service vollkommen recht, wenn er schreibt:
"Trotzki gilt gemeinhin als ein Mensch mit Vorzügen, die ihn einer anderen Kategorie zuordnen als Stalin. Tatsächlich hat Stalin Verbrechen von einer Monstrosität begangen, mit der sich kaum ein Diktator des 20. Jahrhunderts messen kann. Aber Trotzki ist auch kein Engel. Im Bürgerkrieg gierte er unverhohlen mach Diktatur und Terror. Die Bürgerrechte von Millionen, die Industriearbeiter eingeschlossen, trat er mit Füßen."
Trotzki war keine wirkliche Alternative zu Stalin. Die kontrafaktische Frage: "Was wäre, wenn?" lässt sich etwa so beantworten: Hätte sich Trotzki gegen Stalin durchgesetzt, wäre die Sowjetunion zu einer militärischen Speerspitze des kommunistischen "regime change" in Europa geworden. Sie hätte ein unübersehbares außenpolitisches Chaos verursacht, und dabei innenpolitisch kaum weniger Gewalt angewandt als unter Stalin. Vermutlich wäre sie aber schon erheblich früher zusammengebrochen.
Robert Service: Trotzki. Eine Biographie
Aus dem Englischen von Friedrich Giese
Verlag Suhrkamp Berlin
730 Seiten, 34,95 Euro
David North: Verteidigung Leo Trotzkis
Aus dem Englischen durch ein ungenanntes Übersetzerteam
Mehring Verlag Essen
240 Euro, 14,90 Euro
Dieser Umstand macht einen Teil der Emotionen erklärbar, die Robert Service, Historiker aus Oxford, bei seiner umfangreichen, 2009 bei Harvard University Press auf Englisch erschienenen Trotzki-Biographie die Feder führten. Vor allen Dingen aber begleitete sie seine öffentlichen Auftritte. Der "Evening Standard" berichtete über eine Präsentation des Buches im Oktober 2009 und zitierte Service mit folgender Formulierung:
"Noch ist Leben in dem alten Kerl Trotzki - aber wenn der Eispickel nicht gereicht hat, ihn endgültig zu erledigen, habe ich das nun hoffentlich geschafft."
Das sind, vorsichtig formuliert, ziemlich markige Sprüche außerhalb jeder politischen Korrektheit. So etwas sagt man nicht, und es lässt sich auch kaum durch die bekannte britische Neigung zu drastischem Humor entschuldigen. Wie gesagt, bei Service sind, was Trotzki anbetrifft, offenbar erhebliche Emotionen im Spiel. Im Guardian schrieb er:
"Den ganzen Winter über wurde ich von Trotzkisten bei öffentlichen Veranstaltungen angegriffen. Sie bestätigten nur, dass mein Glaube, dass ein genuines öffentliches Interesse daran besteht, den alten Mann Trotzki mit klaren Augen zu sehen, richtig ist."
Nun ist das Buch bei Suhrkamp auf Deutsch erschienen und hat, ungewöhnlich, auch bei uns schon im Vorfeld erhebliche Turbulenzen verursacht. Vierzehn deutsche Historiker und Soziologen schickten sich in einem Brief an die Verlegerin Ulla Unseld-Berkewicz an, die Publikation zu verhindern. Sie warfen Robert Service unter anderem Antisemitismus vor. Das ist vielleicht doch etwas übertrieben.
So richtig gut ist Service’ Trotzki aber auch nicht. Erstens enthält es eine erhebliche Reihe von faktischen Fehlern, auf die schon der britische Trotzkist David North in verschiedenen Vorträgen und schließlich in einem ganzen Buch genüsslich aufmerksam gemacht hat. Suhrkamp hat einige Fehler der englischen Ausgabe stillschweigend korrigiert, falsche Datumsangaben etwa, aber bei weitem nicht alle.
Ferdinand Lassalle als deutschen Marxisten oder Eduard Bernstein als Liberalen zu bezeichnen, ist ebenso eigenwillig wie der Versuch, die frühen russischen Bundisten in die Nähe des Zionismus zu rücken. Der Organisator des Mordes an Trotzki hieß mit Vornamen Leonid und nicht Natan. Und so weiter.
Es ist darüber hinaus immer von Bedeutung, welche Fragen man sich stellt. Service’ Fragen sind sehr bescheiden. Zum Verständnis eines Jahrhunderts, das solche extravaganten Persönlichkeiten wie Leo Trotzki hervorgebracht hat, trägt sein Buch leider nur wenig bei.
Trotzki war eine Provokation für die konservativen Eliten seiner Zeit. Er kam quasi aus dem Nichts und war plötzlich der eigentliche Drahtzieher der erfolgreichen Oktoberrevolution. Er konnte, ohne militärische Erfahrung, eine Kriegsmaschine wie die Rote Armee in Bewegung setzen und vom Salonwagen seines "Trotzki-Zugs" aus dirigieren.
Er konnte mit Surrealisten korrespondieren und war ein begnadeter Stilist, was ihm viel Sympathie bei Intellektuellen eingebracht hat. Er selbst empfand sich als ein Beispiel des Neuen Menschen, der sich nun mit Gewalt und in permanenter Revolution auf dem Erdball verbreiten sollte. Solche Hybris machte ihn aber gefährlich, nicht weniger als seinen Antipoden Stalin. In dieser Frage hat Service vollkommen recht, wenn er schreibt:
"Trotzki gilt gemeinhin als ein Mensch mit Vorzügen, die ihn einer anderen Kategorie zuordnen als Stalin. Tatsächlich hat Stalin Verbrechen von einer Monstrosität begangen, mit der sich kaum ein Diktator des 20. Jahrhunderts messen kann. Aber Trotzki ist auch kein Engel. Im Bürgerkrieg gierte er unverhohlen mach Diktatur und Terror. Die Bürgerrechte von Millionen, die Industriearbeiter eingeschlossen, trat er mit Füßen."
Trotzki war keine wirkliche Alternative zu Stalin. Die kontrafaktische Frage: "Was wäre, wenn?" lässt sich etwa so beantworten: Hätte sich Trotzki gegen Stalin durchgesetzt, wäre die Sowjetunion zu einer militärischen Speerspitze des kommunistischen "regime change" in Europa geworden. Sie hätte ein unübersehbares außenpolitisches Chaos verursacht, und dabei innenpolitisch kaum weniger Gewalt angewandt als unter Stalin. Vermutlich wäre sie aber schon erheblich früher zusammengebrochen.
Robert Service: Trotzki. Eine Biographie
Aus dem Englischen von Friedrich Giese
Verlag Suhrkamp Berlin
730 Seiten, 34,95 Euro
David North: Verteidigung Leo Trotzkis
Aus dem Englischen durch ein ungenanntes Übersetzerteam
Mehring Verlag Essen
240 Euro, 14,90 Euro

Cover: "Robert Service. Trotzki. Eine Biographie"© Verlag Suhrkamp Berlin

Cover: "David North: Verteidigung Leo Trotzkis"© Mehring Verlag Essen