Tropfprobe in der Kaufhalle

Rezensiert von Stephan Hilsberg · 07.08.2011
Fehlte nur der Mut zur realen Utopie? Wolles Untersuchung besticht durch eine Unmenge von Details aus dem Alltag der DDR, findet aber nicht zu der Erkenntnis, dass der sozialistische Staat schon gescheitert war, bevor er gegründet wurde.
Stefan Wolle ist ein belesener und aufmerksamer Historiker, der uns schon viele bemerkenswerte Bücher über die Wende, und die DDR-Geschichte beschert hat. Und auch sein neuestes Werk: "Aufbruch nach Utopia" besticht wieder durch schriftstellerisches Können, empfindsames Aufnehmen von Stimmungen, und einer Unmenge von praktischen Details aus dem Alltag der DDR, welches den Leser in die Welt der DDR und die hier erlebten Gefühlslagen zurückzusetzen vermag. Es gibt Stellen, da möchte man, gleichsam den Autor umarmend ausrufen: "Ja genauso war's!". Etwa wenn Wolle liebevoll und gleichsam distanziert diese ekligen Plastikmilchtüten beschreibt, die die DDR ihren Verbraucher-Bürgern als ihre spezifische Segnung moderner Verpackungstechnologie anbot, die sie aber nicht in den Griff bekam. Die Milchtüten, schreibt Wolle,

"hatten jedoch die unangenehme Eigenschaft, häufig zu tropfen. Bereits in der Kaufhalle hinterließen sie auf dem Weg zur Kasse eine Tropfspur. Größer war noch das Malheur, wenn die Tropftüten im Einkaufsbeutel verschwanden. Gelegentlich konnte man zu Hause nur noch eine Riesenschweinerei feststellen. Gewitzte Kunden unterzogen also die Milchschläuche vor dem Kauf einer Tropfprobe. Sie hielten Tüte für Tüte in Augenhöhe und beobachteten das Abtropfen der weißen Flüssigkeit. Das war nicht ganz leicht, musste man doch zwischen Eigentropfbildung und Fremdbefeuchtung unterscheiden."

Wolle ist hier satirisch, ohne sein Buch in eine Satire abgleiten zu lassen. An einer anderen Stelle schildert er die Nöte der Modemacher in der DDR, weil die Mode von der DDR-Führung einerseits als für das Lebensgefühl ihrer Bürger notwendige Produktverschönerung angesehen wurde, ihr andererseits aber in den Augen des vergreisten Politbüros immer etwas Überflüssiges anhaftete. Und so mussten die Modemacher ideologisch argumentieren, wenn sie ihren Gestaltungsspielraum etwas vergrößern wollten. Auch hier ist Wolle sehr nah bei den Menschen, deren Wohl und Wehe der Leser sehr gut nachvollziehen kann. Mit einer Fülle von weiteren Beispielen ließe sich das belegen. Doch der Ehrgeiz des Autors zielt auf etwas Höheres. Augenscheinlich versucht er zu belegen, was den Sinn der DDR bei vielen ihrer Bürger ausgemacht hat.

Und damit ist man bei der ersten Schwäche des Buches. Denn er schreibt aus der Position jener DDR-Bürger, denen an der DDR etwas lag. Das waren aber zu Lebzeiten dieses untergegangenen Staates, wenn's hoch kommt, vielleicht ein Fünftel der hier lebenden Deutschen. Vom Alltag des einfachen Arbeiters ist wenig zu lesen, nichts von den Familien, deren Angehörige Opfer des Systems wurden, nichts von den enteigneten Bauern, von Republikflüchtlingen oder von Diskriminierungsopfern, von denen es in der DDR viele gab.

Natürlich ist Wolle beizupflichten, wenn er die DDR auch als einen Versuch beschreibt, in ihr eine Utopie zur gesellschaftlichen Realität werden zu lassen. Natürlich wurde der DDR-Sozialismus gestützt vom Glauben an den besseren deutschen Staat, was bei den Betroffenen zu einer besonderen Leidensfähigkeit führte. Wolle beschreibt die auch treffend und erklärt, warum sich gerade viele Künstler in den 60-ger Jahren die oberlehrerhaften Gängeleien des Ulbricht-Staats haben gefallen lassen:

"Viele der Betroffenen scheuten den radikalen Bruch mit der DDR, weil sie diesen Staat doch für das bessere Deutschland und den Sozialismus für das bessere System hielten."

Doch wirklich unangenehm an diesem Buch ist der Eindruck, als ob der DDR-Sozialismus eine echte Chance gehabt hätte und auch hätte bekommen müssen. Immer wieder finden sich Passagen wie diese:

"Die Frage hätte lauten müssen: Wie entwickelt man eine Wirtschaftsform, in der die offenbaren Schwächen der kapitalistischen Warenproduktion überwunden werden, ohne dass dies zu Einschränkungen des sozialen Wohlstandes, der Freiheit und der Mitbestimmung führt. Dieser Mut zur realen Utopie aber fehlte damals."

Wolle findet auf seinen 440 Seiten nicht zu der Erkenntnis, dass die DDR schon gescheitert war, bevor sie gegründet wurde. Denn ihre Gründer versuchten die Probleme der offenen pluralen Gesellschaft, wie sie in Europa seit der großen französischen Revolution besteht, mit den Mitteln des Mittelalters zu beheben, mit einer Art monistischen Weltanschauung, die andersdenkende Menschen ausgrenzte. Mit den Widersprüchen unserer Zeit zu leben, mag gewiss nicht einfach sein. Doch in Utopia zu bleiben, ist heute genauso wenig eine Lösung wie zu DDR-Zeiten.

Stefan Wolle: Aufbruch nach Utopia, Alltag und Herrschaft in der DDR 1961– 1971
Chr. Links Verlag, Berlin 2011
Buchcover: "Aufbruch nach Utopia" von Stefan Wolle
Buchcover: "Aufbruch nach Utopia" von Stefan Wolle© Ch. Links Verlag
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