Triumph über schwierige Umstände

Rezensiert von Sylke Tempel · 07.10.2012
Lyndon B. Johnson beschäftigt die Amerikaner derzeit wie kein anderer ihrer Präsidenten. Die elegante und kluge Biografie von Robert Caro über den Südstaaten-Demokraten steht seit Monaten auf der Bestsellerliste.
Ein Schwarzweiß-Foto – das ist, was die meisten Deutschen, wenn überhaupt, mit Lyndon B. Johnson, dem 36. Präsidenten der Vereinigten Staaten in Verbindung bringen.

Es zeigt einen geradezu klaustrophobisch abgeriegelten Raum in der Präsidentenmaschine Air Force One, in der Mitte steht Johnson, die rechte Hand zum Schwur erhoben, die linke auf der Bibel, die die sehr klein gewachsene Richterin Sara Hughes dem über 1,90 großen Johnson hinhält; hinter ihm dessen Frau Lady Bird in einem gänzlich unpassend scheinendem weißen Kleid.

Zu seiner Linken Jaqueline Kennedy, noch im blutverschmierten Kostüm, das sie trug, als ihr tödlich getroffener Mann John F. mit dem Kopf auf ihren Schoß sank – ihr Gesicht ein einziger Ausdruck von Fassungslosigkeit. LBJ’s Knautschgesicht wirkt noch zerknitterter als sonst, aber hoch konzentriert.

Ob bereit oder nicht, sollte er diesen Moment später kommentieren – die Pflichten, die er nun zu erfüllen hätte, seien unermesslich gewesen:

"Die Nation befand sich in Schock und tiefer Trauer. Die Zeiten verlangten nach Führung – die ganze Welt blickte auf uns wie durch ein Vergrößerungsglas. Ich musste mich bewähren."

Es ist Johnson der Ruf anhaften geblieben, ein zu Unrecht an die Macht gekommener Präsident gewesen zu sein: der Mann, dessen Triumph auf einer Tragödie beruhte, der Ermordung John F. Kennedys an jenem 22. November 1963 in Dallas, Texas, Johnsons Heimatstaat. Verschwörungstheoretiker unterstellen ihm gar eine Beteiligung an einem Mordkomplott, wahlweise in Verbindung mit dem kubanischem Regime oder der Mafia, und davon muss etwas hängen geblieben sein.

"Hat er ES getan?" so berichtet LBJ’s Biograph Robert Caro, sei die Frage gewesen, die man ihm am häufigsten gestellt habe. Als würde diese finstere Unterstellung nicht ausreichen, so hängt man Johnson auch gerne die Verantwortung für das amerikanische Desaster in Vietnam an, obgleich es Kennedy war, der immer mehr so genannte Militärberater nach Saigon entsandte und die USA so in einen Krieg mit den kommunistischen Vietcong verwickelte.

Johnson gehört also nicht zu den beliebtesten Präsidenten der USA. Und doch beschäftigt die Amerikaner derzeit kein anderer so stark wie er. Der vierte, über 700 Seiten starke Teil von Robert Caros Biographie mit dem Titel "Passage to Power" steht seit Monaten auf der Bestsellerliste. Kein Geringerer als US-Präsident Nummer 42, Bill Clinton, hat dieses Buch in der New York Times besprochen – und er trägt ganz offensichtlich ein ganz anderes Bild dieses Mannes im Kopf:

"Wir alle kennen diese typischen Fotos von Johnson, auf denen er sich vollkommen auf ein Gespräch konzentriert – manchmal bohrt er seinen dicken Zeigefinger in die Brust des Gegenübers, manchmal legt er seinen langen Arm um dessen Schultern.

Caro beschreibt das sehr schön: Johnson musste sich nicht mal im selben Zimmer aufhalten, er war ein Meister darin, seine Gesprächspartner am Telefon zu manipulieren, sie zu umschmeicheln, oder auf sie Druck auszuüben."


Clinton, der ewige Charmeur, weiß, wovon er redet: denn auch er hatte mit einem Kongress zu kämpfen, der ihm das Leben schwer machte. Er hat ebenso wie Obama jetzt erfahren, wie sehr der mächtigste Mann der Welt von Kräften zu Hause, ja, sagen wir es deutlich, geradezu kastriert werden kann.

Darum geht es und das fasziniert wohl die amerikanische Leserschaft an Caros ebenso eleganter wie faktenreicher und kluger Biografie: "Passage to Power" beschreibt eben nicht nur, wie Johnson zu Macht kam. Sie beschreibt das Phänomen der Macht und wie sie sich nutzen lässt.

Der junge Senator und Südstaatendemokrat Johnson hat, um endlich Macht zu erwerben, keiner einzigen Gesetzesvorlage zur Verbesserung der Lage der Schwarzen in den USA zugestimmt. Als älterer Politiker, als respektierter und gefürchteter Mehrheitsführer genoss er genug Sicherheit, um sich vom Druck der Südstaatenbasis zu befreien und liberalere Positionen einzunehmen.

Als Vizepräsident verlor er all das. Der Kennedy-Clan, das doch recht selbsttrunkene Camelot, schloss ihn systematisch von allen wichtigen Entscheidungen aus – selbst in der Kubakrise. Wie kaum ein anderer wusste Johnson, wie Macht und wie der Verlust von Macht sich anfühlen konnte. Als er sie am 22. November bekam, da war er entschlossen, sie zu nutzen. Ist das verwerflich? Nein, findet Caro, ganz im Gegenteil.

"Johnson in dieser Phase der 'Präsidentwerdung' zu beobachten heißt, einen Politiker zu sehen, der nicht nur mit Leidenschaft und Entschlusskraft kämpft, sondern mit etwas viel Wichtigerem: mit dem Talent, ein politisches Ziel auch zu einem Gesetz werden zu lassen – in diesem Fall einem Gesetz, das endlich Gerechtigkeit für Millionen jener bringt, denen sie lange verweigert wurde.

Das war sogar mehr als Talent: das war ein Geschenk, ein sehr seltenes Geschenk. Johnson in dieser Phase zu beobachten hieß, einem politischen Genie bei der Arbeit zuzusehen."


Gegen erhebliche Blockaden im Kongress und Senat brachte er die Bürgerrechtsgesetze und Sozialprogramme wie "affirmative action" auf den Weg, die Millionen von diskriminierten Schwarzen einen Einstieg in Bildungs- und Berufswege ermöglichte, der ihnen zuvor verwehrt worden war. Dem einstmals so anschmiegsamen Johnson ist zu verdanken, dass Amerika liberaler wurde und sich endlich daran machte, das Versprechen einzulösen, das in der Verfassung garantiert ist: gleiche Chancen für alle.

Caro, der 36 Jahre nur an diesem Teil der Biografie von Lyndon B. Johnson gearbeitet hat, brachte die Botschaft seines Buches selbst auf den Punkt - geradezu prophetisch:

"Einen Präsidenten zu beobachten, der in äußerst schwierigen Umständen antritt und über sie triumphiert – das gewährt uns die Möglichkeit, neue Einsichten in das Potential des Machbaren der amerikanischen Präsidentschaft zu gewinnen."

Den Erfolg dieses Buches zu beobachten, das gibt uns Einsicht in die Bereitschaft der amerikanischen Gesellschaft, von den Großen der Politik lernen zu wollen.

Robert A. Caro: The Years of Lyndon Johnson. The Passage of Power
Verlag Alfred A. Knopf (Random House), New York 2012
Cover Robert A. Caro: "The Years of Lyndon Johnson"
Cover Robert A. Caro: "The Years of Lyndon Johnson"© Verlag Alfred A. Knopf
Mehr zum Thema