Trauer um Hans-Dietrich Genscher

"Ein Mann mit ungeheurem Sensorium"

Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (Mitte vor dem Fensterkreuz rechts) verkündet am 30.09.1989 kurz vor 19 Uhr auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag: "Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise....". Der weitere Wortlaut der Ankündigung der bechlossenen Ausreise der DDR-Flüchtlinge, die im Hof der Botschaft campierten, ging in tosendem Jubel unter.
Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag am 30. September 1989. © picture alliance / dpa / Reinhard Kemmether
Klaus von Dohnanyi im Gespräch mit Ute Welty |
Als Staatsmann mit Weltruhm wird er im Gedächtnis bleiben. Klaus von Dohnanyi, SPD, hat als Staatsminister Genscher aus nächster Nähe erlebt und würdigt ihn für sein außerordentliches Gespür und seine Leistungen in der Ostpolitik.
Der SPD-Politiker und frühere Bürgermeister Hamburgs, Klaus von Dohnanyi, hat den verstorbenen früheren Außenminister Hans-Dietrich Genscher für seine Verdienste um die deutsche Außenpolitik, insbesondere in den Beziehungen zur Sowjetunion und zu Russland, gewürdigt.
"Er war ein Mann mit einem ungeheuren Sensorium", sagte von Dohnanyi im Deutschlandradio Kultur. Als Außenminister habe Genscher insbesondere sein feinfühliges Gespür für Situationen ausgezeichnet:
"Und das hatte er ja bis zum Schluss. Er war ein Mann mit großem Feingefühl für die Möglichkeiten in der Außenpolitik, insbesondere in den Beziehungen zur Sowjetunion damals und heute zu Russland."

Ostpolitik zu einem glänzenden Ende geführt

Genschers sehr offene Haltung in Fragen der Ostpolitik und der Vereinbarungen, die mit der Sowjetunion zu treffen waren, habe dieser auch gegen eher nationale Tendenzen in der FDP durchgesetzt. Seine Politik habe er mit seinem Auftritt auf dem Balkon der Prager Botschaft, als er den dort versammelten DDR-Flüchtlingen ihre Ausreiseerlaubnis überbrachte, auch zu einem "glänzenden Ende" geführt, so von Dohnanyi, der unter Genscher von 1976 bis 1981 Staatsminister im Auswärtigen Amt war.

Genschers Rolle beim Regierungswechsel 1982

Der Bruch der sozial-liberalen Koalition beim Regierungswechsel 1982, als die Liberalen sich einem Bündnis mit der CDU/CSU zuwandten, schmerze ihn als Sozialdemokraten heute zwar immer noch, erklärte von Dohnanyi weiter. Er habe den Bruch der Koalition aber nie nur einseitig auf Genscher zurückgeführt. Auch der damalige SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt habe eigene Mehrheiten in der SPD-Fraktion verloren und mit einer Problematik ähnlich wie der spätere SPD-Kanzler Gerhard Schröder gekämpft, erklärte der 87-Jährige, der bis 1981 Abgeordneter im Deutschen Bundestag war und von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg.

Im Auswärtigen Amt genauso präsent wie in der Welt

Von Dohnanyi, der während seiner Zeit als Staatsminister im Auswärtigen Amt von 1976 bis 1981 Hans-Dietrich Genscher aus nächster Nähe erlebt hat, bezeichnete Genscher auch als Chef des Auswärtigen Amtes als einen überall präsenten Politiker. Dennoch habe Genscher ihm in der Koordination der Europapolitik sehr viel Spielraum gelassen und wenig hineingeredet, selbst dort, wo er als Staatsminister in Verhandlungen von Vereinbarungen abgewichen sei, erinnerte sich von Dohnanyi an seine Zeit im Auswärtigen Amt.

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Dieses Leben in einem Nachruf zusammenzufassen, das scheint fast unmöglich. Hans-Dietrich Genscher war so vieles: der Mann auf dem Balkon der Prager Botschaft, der Mann mit dem gelben Pullunder, der Mann, der sich selbst begegnete auf seinen vielen Reisen. Im Alter von 89 Jahren ist Hans-Dietrich Genscher gestorben. Die Republik muss einmal mehr Abschied nehmen, und das tun wir gemeinsam mit einem Mann, der Hans-Dietrich Genscher aus nächster Nähe erlebt hat: Der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi war zu Zeiten Genschers zwischen 1976 und 1981 Staatsminister im Auswärtigen Amt, er hat den Außenminister also begleitet, vertreten und unterstützt. Guten Morgen, Herr von Dohnanyi!
Klaus von Dohnanyi: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Das Bild von Genscher in der Öffentlichkeit habe ich gerade versucht zu skizzieren, wie haben Sie ihn erlebt in diesem Inner Circle des Auswärtigen Amtes?
von Dohnanyi: Herr Genscher war ein Mann, der jeden Morgen und zu jeder Stunde, wenn er im Amt war, den Versuch gemacht hat, das ganze Amt zu kennen und zu beherrschen, und er hat das über seinen Stab getan und über die Morgenbesprechung und über die Staatssekretäre, aber auch direkt über sein persönliches Büro. Also er war ein Mann, der überall war, so wie er in der Welt überall war, war er auch im Ministerium überall.
Welty: Wie viel Gestaltungsfreiheit ist Ihnen dann als Staatsminister noch geblieben?
von Dohnanyi: Ich habe ja diese Europapolitik gemacht, die ich schon einmal koordiniert hatte für die Bundesregierung in der ersten großen Koalition, und da hat er mir sehr, sehr wenig hineingeredet, sag ich mal so, und mir sehr, sehr viel Spielraum gelassen und hat das auch respektiert, wenn ich von gemeinsamen Verabredungen abgewichen bin in den Verhandlungen, weil Europa ja so eine Situation ist, in der man, wenn man in einer Verhandlung sitzt, eben auch Kompromisse machen muss, die man nicht vorhersehen konnte.
Welty: Was hat Genscher als Außenminister ausgezeichnet?

"Sein ungeheuer feinfühliges Gespür für Situationen"

von Dohnanyi: Ich glaube, sein ungeheuer feinfühliges Gespür für Situationen, und das hatte er ja bis zum Schluss. Und wenn Sie sehen, wie er sich in den letzten Jahren ja, sag ich mal, bis in die letzten Monate und Stunden hinein geäußert hat zu Fragen unserer Beziehung zu Osteuropa und insbesondere zu Russland – damals natürlich zur Sowjetunion –, dann kann man ihn, finde ich, am allerbesten verstehen. Er war ein Mann mit einem ungeheuren Sensorium. Irgendjemand hat ihn mal dargestellt mit einer Vielzahl von Antennen auf seinem Kopf – irgend so eine Karikatur habe ich in Erinnerung –, und er war ein Mann mit großem Feingefühl für die Möglichkeiten in der Außenpolitik und insbesondere in den Beziehungen zur Sowjetunion damals und heute zu Russland.

Der Fall Elisabeth Käsemann

Welty: Eine Situation, wo Genscher und Sie im Nachhinein unterschiedlicher Meinung waren, das war der Fall Elisabeth Käsemann, eine junge deutsche Studentin, die 1977 von der argentinischen Militärjunta ermordet wurde. Ohne den Fall jetzt noch einmal in Gänze aufrollen zu wollen, war das auch eine Eigenschaft von Hans-Dietrich Genscher, dass er auch ausblenden konnte, wenn er denn wollte?
von Dohnanyi: Das kann ich so nicht beurteilen, ich glaube nur, dass er damals auch sehr viel andere Dinge um die Ohren hatte, und man muss natürlich auch sehen, dass diese Unruhen, die in Lateinamerika bestanden und deren Folgen man schwer übersehen konnte, für den Außenminister in seinen Kontakten zu seinen Kollegen in den jeweiligen Regierungen eine andere Problematik waren als für mich, der ich das sehr viel einseitiger, aber vielleicht auch richtiger in der Beziehung, also als Menschenrechtsproblem gesehen habe. Und außerdem hatte ich natürlich auch diese besondere persönliche Erfahrung auf diesem Gebiet der Diktaturen, und das hat uns vielleicht etwas in dieser Frage unterschieden, obwohl ich das nicht unterstreichen möchte.
Welty: Sie haben es aber als Fehler bezeichnet, später in einem Fernsehinterview, dass Genscher nicht …
von Dohnanyi: Den ich selber auch gemacht habe.
Welty: Ja … dass Genscher nicht eingegriffen hat oder überhaupt das Auswärtige Amt nicht eingegriffen hat.
von Dohnanyi: Ja, das ist richtig, aber ich habe das ja eben versucht zu erklären. Eine Außenpolitik auf der Ebene des Ministers und der Beziehung zwischen zwei Staaten ist etwas anderes als die Menschenrechtsbeobachtung, die ein Staatsminister auf eine sehr persönliche Art gemacht hat. Also ich würde das nicht notwendigerweise im Nachhinein noch mal kritisieren. Ich glaube nur, dass diese Fehler von uns allen gemacht worden sind, und ich war vielleicht der Einzige in diesem Stab um Genscher herum, der das so offen zugegeben hat, und das wiederum, glaube ich, liegt vielleicht an meiner persönlichen Familiengeschichte.
Welty: Sie haben das Auswärtige Amt 1981 verlassen, waren dann Erster Bürgermeister in Hamburg, während Genscher den Bruch der sozialliberalen Koalition herbeiführte, indem er und die anderen FDP-Minister zurücktraten. Wie sehr schmerzt das den Sozialdemokraten Dohnanyi noch heute?

Genschers Rolle beim Regierungswechsel 1982

von Dohnanyi: Ja, das schmerzt einen natürlich, dieser Bruch mit der FDP ist sehr schmerzhaft, aber er ist nicht von Genscher allein herbeigeführt worden. Man muss natürlich auch sehen, dass der Bundeskanzler Helmut Schmidt seine Mehrheiten in der SPD-Fraktion verloren hatte und nicht in der Lage war durchzusetzen, was er wollte. Er hat damals zur SPD-Fraktion gesagt, ihr wollt, dass ich mehr Geld ausgebe, und ich will nicht, dass ich mehr Schulden mache, und das geht eben nicht mehr. Auf diesem Hintergrund und den Vorstellungen von Graf Lambsdorff war es dann auch eigentlich nicht mehr möglich, das weiterzuführen. Also ich habe das nie so einseitig auf Genscher zurückgeführt, sondern mehr auch auf eine Problematik, wie sie auch Gerhard Schröder später hatte, als er mit der Agenda 2010 auch mit seiner Fraktion nicht mehr klarkam. Wir Sozialdemokraten sind in Fragen der Sozialpolitik eine nicht einfache Partei.
Welty: Genscher ist einer der großen, einer der wichtigen Architekten der deutschen Einheit, deswegen ist klar, was er dem Land hinterlässt, aber wenn Sie über die Faktenlage hinausgehen wollen, wie hat er die politische Kultur geprägt?

"Er galt innerhalb der Koalition als großer Taktiker"

von Dohnanyi: Ich komme zurück auf das, was ich zu Beginn sagte, diese ungeheure Feinfühligkeit. Er galt natürlich innerhalb der Koalition als ein großer Taktiker, und er galt nicht als derjenige, sag ich mal, der unbedingt die strategischen Linien gezogen hat. Und diese taktischen Eigenschaften hatte er natürlich auch innerhalb der Koalition, und das hat ihn manchmal schwierig gemacht für andere, die nicht überschauen konnten gelegentlich, worauf er eigentlich noch hinauswollte. Aber er war eben ein Mann, der sehr intensiv auch seine eigene Partei beobachtete, und er kam aus einer Partei oder war in einer Partei, die vor dem späteren Bundespräsidenten Scheel ja den Ritterkreuz-Träger Mende als Vorsitzenden hatte, also eine Partei mit stark, sag ich mal, nationalen, vielleicht sogar zum Teil nationalistischen Zügen. Und das hat natürlich ihm auch gar nicht gepasst in seiner sehr offenen Politik, in der Frage der Ostpolitik und der Vereinbarungen, die mit der Sowjetunion zu treffen waren, und die hat er ja dann auch in einer glänzenden und historisch unvergesslichen Weise auf dem Prager Balkon zu einem sehr persönlichen Ende geführt.
Welty: Verbunden durch die gemeinsame Zeit im Auswärtigen Amt, aber nicht nur dadurch. Der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi über den FDP-Politiker Hans-Dietrich Genscher. Ich danke sehr für dieses Gespräch!
von Dohnanyi: Vielen Dank Frau Welty!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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