Tragische Helden auf der Couch

Verletzlichkeit statt Superkraft

03:16 Minuten
Der Schauspieler Joaquin Phoenix in einer Szene des Films "Joker". Er schaut melancholisch aus einem Autofenster auf eine verregnete, nächtliche Straße.
Komplexe Figur mit Therapiebedarf: Joaquin Phoenix in "Joker". © imago / Cinema Publishers Collection / Courtesy of Warner Bros. Entertainment Inc.
Ein Kommentar von Tobi Müller · 04.09.2021
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Heldenstoffe drängen aktuell auf die Bühnen und in die Kinosäle. Doch heutige Helden zeichnen sich nicht durch siegreich überwundene Konflikte und übermenschliche Kräfte aus, sondern durch die Anerkennung der eigenen Wunden und Verletzungen.
Die Helden sind zurück! Selbstverständlich die tragischen Helden, wir befinden uns in der seriösen Kulturnation Deutschland. Gelacht wird später.
Allein in Berlin geben die Theater bald vier Mal den Ödipus-Stoff: als musikalisch-chorisches Schauspiel nach Ulrich-Rasche-Art im Deutschen Theater, als böse Pop-Travestie von Pinar Karabulut auf dem Parkdeck der Deutschen Oper, als dunkle, gar nicht komische Feier des Schicksals in der Komischen Oper und in ein paar Wochen folgt die psychologische Luxusarbeit von Thomas Ostermeier in der Schaubühne.
Die Diagnose aus der Pistole: Die Pest im antiken Theben, klar, das ist Corona, und die Schuld trägt nicht der Vatermörder und Mutterschläfer Ödipus, sondern wir, die tonnenweise Tiere essen und mehrfach pro Leben um den Globus fliegen.
Programmheft zu, Thema erledigt. Für mich einen Piccolo, bitte.

Verkettung von Schuld und Gewalt

Im kleinen Rausch auf nüchternen Magen (es hat wieder nur für eine Brezel gereicht) melden sich noch andere Gründe für die alten Heldenstoffe. Das vorbürgerliche Drama erzählt von Schuld über die Generationen hinweg und nennt es Fluch, von Aischylos über Sophokles bis Shakespeare geht es von der Orestie über Ödipus bis Hamlet darum, die lange Verkettung von Schuld und Gewalt zu durchschlagen.
Denn es gibt Mächte, die größer sind als wir: die Götter, und die Geschichte. Erst das bürgerliche Drama, etwa mit Goethes "Iphigenie auf Tauris", hat diese Konflikte vom Himmel runtergeholt und ins Individuum hinein verlegt, in das bürgerliche Subjekt, das nach Selbstbestimmung strebt (und so auch mehr Verantwortung tragen muss).
Die antiken Stoffe machen uns nun klar, dass wir das als Einzelne nicht schaffen. Wie kommen wir aus der langen Unterwerfungsgeschichte wieder raus, die unsere Lebensgrundlage zerstört und riesige Bevölkerungsgruppen benachteiligt? Eine Frage übermenschlicher Größe.
Haut ganz schön rein, der Sekt. Mal kurz an die frische Luft.

Die Dekonstruktion der Unverwundbarkeit

Es geht bei den Heldenstoffen nicht so sehr um den konkreten Konflikt oder die göttliche Kraft eines Helden, sondern um die Frage der Schuld und wie man sich zu ihr verhält. Ob man sehen lernt, oder in der Dunkelheit verharrt.
Die Helden sind längst auf der Couch gelandet, beim Psychiater, und reden über ihren Ängste.
Und das gilt genauso für eine andere nicht-bürgerliche Kunst und ihre Helden und auch Heldinnen: das Kino, besonders die erfolgreichen Comic-Verfilmungen. Batman, der Joker und Spiderman sind komplexe Figuren, die von Verletzungen erzählen. Nicht die totalitäre Sehnsucht nach der Superkraft steht da im Zentrum, sondern die Anerkennung der eigenen Verletzlichkeit und der Wunden.
Niemand zeigt diese Entwicklung zum traumatisierten Helden besser als Daniel Craig seit nurmehr fünf Filmen in der Rolle des James Bond. Craigs Bond ist eine lange Dekonstruktion der Unverwundbarkeit, die göttliche Kampfmaschine im Auftrag der Königin muss dringend in Therapie.
Und wir am besten mit ihm, in wenigen Wochen endlich im Kino, sollte es im Theater gerade mal wieder keine Karten mehr geben.
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