Tränen in der Literatur

Abrupter Ausbruch großer Gefühle

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Das Bild wurde von Vincent van Gogh gemalt und zeigt einen trauernden alten Mann, der sein Gesicht in den Händen verbirgt.
Trauernder Mann, wie ihn Vincent van Gogh sah: Nicht nur in der Literatur sehen wir auch Männer weinen. © dpa / picture alliance / akg-images
Sieglinde Geisel im Gespräch mit Andrea Gerk |
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Geweint wird immer - auch in der Literatur. Wann die Tränen in Romanen fließen und warum, hat Sieglinde Geisel recherchiert. Und herausgefunden: Die "großen Heulszenen" sind Männern vorbehalten.
"Weinen" lautet der Titel des neuen Buchs der amerikanischen Autorin Heather Christle. Darin arbeitet sich Christle sehr assoziativ und persönlich am Thema ab. Weinen ist menschlich und ein universales Phänomen: Jeder kann es, fast jeder tut es hin und wieder. Tiere dagegen weinen nicht – auch wenn man sich bei Elefanten nicht ganz sicher ist.
Dürfen Romanhelden weinen? Das hänge von der Epoche ab, sagt unsere Kritikerin Sieglinde Geisel. In der Empfindsamkeit seien Tränen "völlig selbstverständlich" gewesen. Goethes "Die Leiden des jungen Werther" ist ein Buch der Tränenbäche: "Ein Strom von Tränen bricht aus meinem gepressten Herzen, und ich weine trostlos einer finstern Zukunft entgegen."

Literarische Blütezeit des Weinens

Im Grimmschen Wörterbuch heißt es: "Von Klopstock bis Jean Paul dauert die literarische Blüthezeit des Weinens." Und für den Philosophen Lichtenberg war es "das höchste Geschenk des gefühlvollen Menschen, lebendige Tränen zu weinen".
Gemeinhin heißt es, Frauen seien näher am Wasser gebaut als Männer. Geisel mag das für die Literatur nicht bestätigen: "Die großen Heulszenen beschreiben Männernöte." Bei der "Marquise von O." von Heinrich von Kleist hören wir den Vater, der die Tochter verstoßen hatte, "heranschluchzen". Eine Versöhnungsszene, die zu einem impulsiven männlichen Gefühlsausbruch führt: "Der Kommandant beugte sich ganz krumm, und heulte, dass die Wände erschallten."

Nationalsozialismus und toxische Männlichkeit

Der Schweizer Schriftsteller Peter von Matt habe diese Szene zum Anlass genommen, von "verflüssigten Vätern" zu sprechen, so Geisel: Sie folgen auf die "steinernen" oder "eisernen" Väter, die zwar "ein krachend Herz" haben, wenn sie ihre Kinder verstoßen, aber niemals weinen würden. Nun drückt sich in den Tränen der Väter Neues aus: Das Patriarchat verändert sich, und damit auch das Verhältnis der Generationen.
Und wo stehen wir heute? In einem modernen Roman kann man sich Szenen wie bei der Marquise von O. kaum vorstellen. Haben wir das Weinen verlernt? Geisel: "Zwischen uns und der Romantik liegen Zeiten, denen Gefühle suspekt waren. Hier hat der Nationalsozialismus ungeheuren Schaden angerichtet." Es galt das Gebot der Härte, verbunden mit einer toxischen Männlichkeit.
Das habe Nachwirkungen bis heute, betont unsere Kritikerin: "Die Unfähigkeit zu trauern ist auch eine Unfähigkeit zu weinen."
(ahe)

Heather Christle: Weinen
Carl Hanser Verlag, München 2019
208 Seiten, 19 Euro

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