Tourismus im Nationalpark Wattenmeer

Ein Besuchermagnet, den sein Erfolg gefährdet

10:07 Minuten
Gruppe bei einer Wattenmeerwanderung, die Füße alle im Schlamm.
Joke Pouliart führt eine Besuchergruppe durch das Wattenmeer: Für die Natur könnten viele Urlauber ein Problem darstellen, sagt Pouliart. © Deutschlandradio / Vanja Budde
Von Vanja Budde und Imke Oltmanns · 21.07.2020
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Den Nationalpark Wattenmeer gibt es seit Mitte der 80er-Jahre. Die Erhaltung der einzigartigen Natur erfordert ein ständiges Ausbalancieren der Interessen. Eines ist dabei klar: Wenn das nicht gelingt, kommen die Touristen auch nicht mehr.
Am Restaurant "Wattkieker" im ostfriesischen Küstenort Harlesiel hat Guide Joke Pouliart rund ein Dutzend Touristen um sich geschart: "Das Leben pro Quadratmeter, was hier vorhanden ist für die Produktivität des Wattenmeeres, ist ausgezeichnet worden. Was hier an Muscheln entsteht über den Sommer, was dann als Nahrung dient für die Vögel - all diese Beziehungen miteinander, die möchte ich euch heute erzählen auf unserer Tour."
Wattführer Joke Pouliart zeigt zu einer Seite. Er trägt einen mit Federn geschmückten Hut.
Wattführer Joke Pouliart erklärt das Ökosystem.© Deutschlandradio / Vanja Budde
Drei Stunden wird die Wanderung durchs Watt dauern. Natur- und Umweltschutz stehen im Zentrum: Joke Pouliart ist Kooperationspartner des Nationalparks und des World Wide Fund for Nature, WWF. "Gut, dann gehen wir erstmal zum Strand, auf geht’s!", gibt er den Startschuss.

Minimaler Anteil für touristische Nutzung

In kurzen Hosen, mit Wattsocken oder Badeschuhen an den Füßen, wegen der scharfkantigen Muscheln, marschiert die Gruppe los. Am betonierten Nordseeufer sitzen Urlaubsgäste im Strandkorb, lassen Drachen steigen, Kinder hüpfen auf Hüpfburgen.
Das geht nur auf 0,3 Prozent der riesigen Nationalparkfläche, in den sogenannten Erholungszonen: Touristische Nutzung ist hier erlaubt, anders als in den streng geschützten Kernzonen.
Restaurantbetreibern und Ferienhausvermietern an der ganzen Nordseeküste ist ein Stein vom Herzen gefallen, weil die Sommersaison nach dem Corona-Lockdown besser läuft denn je. Hier in Ostfriesland sind allein schätzungsweise ein Drittel mehr Camper angereist, als im Sommer 2019.
Aber für die Natur könnten die vielen Urlauber ein Problem darstellen, sagt Joke Pouliart.
"Auch auf dem Strand hier waren in diesem Jahr wieder einige Nester an Austernfischern, reine Strandbrüter, sehr gut getarnt", erzählt er. "Das war genau in der Zeit, als die Öffnung hier wieder losging in Niedersachsen. Himmelfahrt, vier Nester auf dem Strand, nach dem Wochenende waren alle Nester weg. Gut, wir versuchen mal die ersten Laufversuche im Watt, kommt mal mit!"

Muscheln filtern das Wasser

Es ist Niedrigwasser: Die Nordsee hat sich weit zurückgezogen, die Inseln Wangerooge und Spiekeroog am Horizont sind zu Fuß erreichbar. Doch schnell rutscht die erste Wanderin im aalglatten, 30 Zentimeter tiefen Schlick aus und landet im dunkelbraunen Matsch.
Gar nicht so einfach, auf dem Meeresboden zu laufen. Und anstrengend ist es auch. Alle sind froh, auf einer Muschelbank wieder relativ festen Boden unter den Füßen zu haben. Joke Pouliart erklärt, dass die Muscheln nicht nur den zehn bis zwölf Millionen Zugvögeln als riesiges Buffet dienen, die jedes Jahr im Watt Station machen, sondern dass sie auch wie ein lebendiges Klärwerk das Wasser filtern.
"So eine Miesmuschel schafft durchaus drei Liter Wasser pro Stunde, die durchgefiltert werden", sagt Pouliart. "Man sagt, dass alle Muscheln gemeinsam einmal pro Woche das gesamte Wattenmeer durchgefiltert haben."
Muscheln und Algen auf Händen.
Direkte Berührung: Muscheln erfüllen eine wichtige Funktion in dem Okosytem.© Deutschlandradio / Vanja Budde
Der Guide erklärt, die wegen des Klimawandels höheren Wassertemperaturen störten die Miesmuscheln bei ihrer Winterruhe. Die 10.000 Tier- und Pflanzenarten im Watt müssten extrem anpassungsfähig sein, müssten Überflutung, Salzwasser, Wind und Sonne standhalten können.
Pouliart zeigt die Wohnröhren von Krebsen und berichtet aus dem Leben der Wattwürmer, erklärt, wie Ebbe und Flut entstehen. In einem Priel fängt er mit einem Kescher eine Handvoll Garnelen und berichtet, dass Umweltverbände die Krabbenfischerei im Nationalpark einschränken möchten.
"Die Schleppnetze werden über den Grund gezogen. Dabei werden natürlich die Fische und die Garnelen aufgescheucht, die auf dem Boden sind. Es werden Sandkorallen zerstört und viele andere Sachen, die unten auf dem Meeresboden eigentlich sein sollten", verdeutlicht Pouliart die Konsequenzen. "Rochen – aus dem Wattenmeer so gut wie verschwunden, die Plattfische. Auch Fische werden ja mit aufgewirbelt oder mit hochgescheucht."

Die Suche nach der richtigen Balance

Fischer, Naturschützer, Landwirte, Tourismusverbände: Peter Südbeck muss all diese Interessengruppen ausbalancieren. Er ist Leiter der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer in Wilhelmshaven. Die zentrale Aufgabe eines Nationalparks ist es, die Natur vor menschlichen Eingriffen zu schützen. Das niedersächsische Wattenmeer ist noch dazu Biosphärenreservat.
Wie passt das zu den Millionen Touristen? "Mehr Besuch, mehr Nutzung in der Fläche des Nationalparks, vor allem auf den Inseln, aber auch im Festlandbereich, heißt natürlich potenziell auch mehr Störungen, mehr Überlagerung, mehr Blockade von Lebensräumen – zum Beispiel für Vögel oder auch für Meeressäuger", zählt Südbeck negative Auswirkungen auf.
"Auf der anderen Seite ist dies der zentrale Wirtschaftsbereich für den ganzen Raum", sagt er, "der einzige auf den Inseln, der einigermaßen Bedeutung hat, der aber davon lebt, das ist immer unsere Hoffnung, dass die Natur intakt ist. Denn dieser Tourismus in unserer Region würde nicht so stattfinden, wenn die Leute in eine geschädigte Landschaft kommen."

Überlegungen, sich vom Nationalpark zu lösen

Auf der kleinsten ostfriesischen Insel Baltrum haben die Hoteliers im vergangenen Jahr mit fast einer halben Million Übernachtungen ein gutes Auskommen erwirtschaftet. Jann Bengen ist einer von ihnen: Er betreibt ein Hotel mit 25 Zimmern am Rand der Dünenlandschaft. Gleichzeitig ist der CDU-Politiker Vorsitzender im Gemeinderat.
2018 erlangte Bengen wattweite Bekanntschaft, weil er forderte, Teile von Baltrum aus dem Nationalpark heraus zu lösen. Dessen strikte Regeln seien mit einer Entwicklung des Tourismus auf der Insel nicht vereinbar.
Die Einheimischen wüssten besser, wie sie ihre Heimat zu schützen haben, argumentierte er: "Wir Insulaner, die wir hier geboren sind, wir wohnen hier schon seit Jahrhunderten auf dieser Insel, oder auf den Inseln. Und wir haben es doch tatsächlich geschafft, trotz aller unserer Nutzung – Beweidung, Jagd, Inseltourismus – diese Natur so wunderbar zu erhalten und zu pflegen. Wir wissen nämlich genau, dass wir von einer intakten Natur abhängig sind." So gut hätten die Inselbewohner das geschafft, dass man 1986 gesagt habe, "Oh, das habt ihr ja so schön hingekriegt, da machen wir mal einen Nationalpark draus."
In Folge werde sein Lebensraum als Insulaner immer mehr eingeschränkt, klagt Bengen. Die Baltrumer CDU scheiterte mit ihrem Antrag, den Nationalpark teilweise zu verlassen und zog ihn schließlich zurück: nicht durchsetzbar.

Nachhaltiger Tourismus

Die meisten Akteure an der Küste und auch auf den Inseln akzeptierten die Regeln und Einschränkungen, die das Weltnaturerbe mit sich bringt, sagt Peter Südbeck von der Nationalpark-Verwaltung. Dass die Trendsportart Kitesurfen nur in ausgewiesenen Zonen erlaubt ist, zum Beispiel. Wegen des Ansturms nach dem Corona-Lockdown habe es allerdings mehr Übertretungen gegeben: Urlauber seien häufiger durch Dünen getrampelt oder allein ins Watt gelaufen.
"Natürlich ist dieses Jahr wirtschaftlich ein besonders schwieriges Jahr. Aber es ist nicht das Primat, immer mehr Leute an die Nordseeküste zu holen", sagt Südbeck. Alle wüssten, dass sie sehr sorgfältig mit dem Naturerbe umgehen müssten. "Das ist Weltnaturerbe. Wir haben uns dazu verpflichtet, gemeinsam diese Werte zu erhalten. Und ich glaube, da sind wir auch auf einem guten gemeinsamen Weg mit den Kollegen im Tourismus."
Grundlage dafür ist ein gemeinsam entwickeltes Strategiepapier für eine nachhaltige Entwicklung des Fremdenverkehrs. Dort steht viel von Verantwortung, Fortbildung und Qualität statt Masse.

WWF bangt um Umsetzung der Strategie

Die Strategie sei eine gute Grundlage, müsse aber auch konsequent umgesetzt werden, fordert Hans-Ulrich Rösner, Leiter des Wattenmeerbüros des WWF in Husum. Der WWF sei mit der aktuellen Situation im Nationalpark zufrieden.
Doch der Andrang in diesem Coronajahr macht den Umweltschützern Sorgen: Ist es eventuell ein Blick in die Zukunft? Die Rufe nach einer Ausweitung der Saison über die Sommermonate hinaus, der Bau von Wellnesshotels in ehemaligen Dünen und Feuchtgebieten auf dem Festland: Der WWF fragt sich, ob die Nationalparkregeln stark genug sind, ein nichtnachhaltiges Wachstum zu verhindern.
Die Wattwandergruppe ist derweil nach mehr als drei Stunden, untenrum schlickverschmiert, auf dem Rückweg zum Festland. Jeder fünfte Urlauber an der Nordsee macht solch eine Wanderung mit.
"Man fragt sich immer, wieso, da ist ja nix. Aber letztendlich ist es die Hauptnahrungsquelle. Und da hängt auch vieles mit zusammen, wie er erklärt hat, der Joke", erzählt ein Urlauber.
"Wir kommen aus dem Saarland und haben schon öfter Berichte übers Wattenmeer gesehen und haben gedacht, es ist interessant, das selbst zu erleben", so eine Touristin.
Und haben Sie Verständnis für die Naturschutzmaßnahmen, dass hier viel verboten und reglementiert ist?
"Ja total! Ich finde das auch gut. Man muss ja auch an die Generationen nach uns denken, dass die das auch noch vorfinden können und auch noch Nutzen daraus ziehen können", berichtet die Saarländerin. "Wenn man sich ein bisschen mit der Region befasst, dann weiß man einfach, dass die Natur hier vorgeht. Man fährt wegen der Natur hin und nicht wegen allem anderen. Dann muss man halt woanders Kitesurfen gehen, wenn man das machen möchte. Es gibt jede Menge Hotels und Ferienwohnungen, aber was bringt es, wenn man immer mehr Geld verdient, aber das hier alles zerstört? Wenn das zerstört ist, kommt der Tourismus auch nicht mehr."
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