Totgeschlagen wegen einer Dose Bier

15.01.2013
Aus der Zeitung erfährt der französische Autor Laurent Mauvignier vom Schicksal eines jungen Obdachlosen, der im Supermarkt ein Bier mitgehen ließ - und von den Aufsehern erschlagen wurde. Mauvignier hat aus dem Stoff eine Erzählung gemacht, die unvergesslich bleibt.
Was für eine Wohltat - ästhetisch und ethisch. Eine solche Charakterisierung will freilich erklärt werden, geht es doch in Laurent Mauvigniers Erzählung "Was ist ein Leben wert?" um das Entsetzliche eines Mordes, begangen an einem jungen Mann, der in einem französischen Supermarkt eine Bierdose geöffnet und ausgetrunken hatte, ohne sie zu bezahlen. Mauvignier - 1967 in Tours geboren, in Toulouse lebend und damit denkbar fern der ausgelaugten Pariser Literaturklüngelwelt - legt nun bereits seit Jahren ein relevantes Buch nach dem anderen vor. Auch diese neue Erzählung bestätigt seinen Rang als einen der interessantesten Autoren seines Landes.

Drastische Szenen ohne erwartbare Gesellschaftskritik
Denn anders als es der leicht ins Didaktische rutschende deutsche Titel suggeriert (im französischen Original heißt es poetischer und gleichzeitig präziser: "Ce que j'appelle oubli") - die Geschichte um einen denkbar unaggressiven Namenlosen, den vier Supermarkt-Aufseher in den hinteren Lagerräumen in einer Orgie der Gewalt zu Tode prügeln, kommt nicht in der kleinen Münze erwartbarer "Gesellschaftskritik" daher. So präzis Laurent Mauvignier auch das produktvoll-neonhell Aseptische des uns allen bekannten Supermarkt-Universums beschreibt - in keinem Nebensatz, keiner Zeile wird insinuiert, dass die von schlecht bezahlten Angestellten zu entmenschten Mördern gewordenen Männer ja auch "irgendwie" Opfer des kapitalistischen Effienzsystems seien:

"Der wahre Grund der ganzen Affäre war doch der, dass sie aus reiner Lust gehandelt hatten, seinen Leib benutzt, um ihn anzufüllen und vollzustopfen mit ihren Mängeln, die sie loswerden wollten..."

Von der Todesangst des Opfers zu den Delirien der Täter
Die gerade einmal 70-seitige Erzählung kommt dabei ohne einen einzigen Satzpunkt aus und markiert die Perspektivwechsel - von der Todesangst des Opfers zu den Delirien der Täter und zurück zur Biografie des obdachlosen Biertrinkers - allein durch Kommata. Doch was für eine Stringenz, was für eine Genauigkeit, ja Härte bei der Vergegenwärtigung der letzten Momente eines Lebens, wo die Erinnerungsbilder, die plötzlich auftauchen, im Konjunktiv geschrieben sind, denn nur "in Filmen wissen sie immer, dass sie sterben, aber in Wirklichkeit ist es nicht so schön, man tut nichts, wenn man stirbt, das Leben macht sich nur winzig klein und macht sich schließlich davon wie ein Parasit, der von einem Skelett ablässt, das ihm nicht mehr behagt..."

Etwas ähnlich Skeletthaftes - nämlich diese Strafsache in Form einer dürren Zeitungsnotiz - hat Laurent Mauvignier zu dieser Erzählung provoziert, in der kein Satz zu viel ist, da die Wiedervergegenwärtigung dieses gemordeten Lebens einem zuvor Anonymen zwar seine Existenzgeschichte zurückgibt, sich jedoch vor jedwedem literarisch-poetischen Erinnerungsprunk hütet. Dass Respekt und moralischer Anstand auch ästhetischen Kategorie seien, mag man mit Gründen bezweifeln - zumindest in diesem schmalen, unvergesslichen Buch aber wird es zur Evidenz.

Besprochen von Marko Martin

Laurent Mauvignier: Was ist ein Leben wert?
Aus dem Französischen von Annette Lallemand
dtv, München 2013
75 Seiten, 9,90 Euro

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