Spuren eines verdrängten Krieges

29.11.2011
Laurent Mauvignier hat einen furiosen Roman über die Nachwirkungen des Algerienkrieges geschrieben. Zugleich ist "Die Wunde" ein Sittenbild aus dem französischen Kleinbürger- und Provinzalltag von heute.
Es gab eine Zeit - gar nicht lang ist´s her und sie dauerte in etwa über ein Jahrzehnt – da schien die französische Literatur nichts Entscheidendes mehr zu sagen zu haben. Michel Houellebecq, die große wilde Ausnahme, ragte wie ein Findling aus einer überschaubar gewordenen Parklandschaft, wo alle - selbstverständlich kultiviert und feinziseliert á la francaise - ihre kleinen Erzähl-Parzellen hüteten. Ausgewogene Prosastücke über kriselnde Mittel- oder Oberschicht-Familien, Äffärchen und Pariser Luxus-Sorgen – sozusagen die Bücher zu den Filmen jener Epoche, die ebenso glatt und fluschig-melancholisch waren wie im Grunde genommen völlig irrelevant. Dann aber kam Jonathan Littell und die Beichte des intellektuellen SS-Mörders in "Die Wohlgesinnten". Dann kam Mathias Ènard mit seinem weltumkreisenden Krisen-Monolog "Zone", dann ging dieses Jahr der renommierte Prix Goncourt an Jean-Christophe Rufin und dessen Roman über den französischen Brasilien-Kolonialismus des 16. Jahrhunderts.

Es schadet nicht, um diesen Hintergrund wenigstens ansatzweise zu wissen, um Laurent Mauvigniers Roman "Die Wunde" neben der literarischen auch eine historische Bedeutung zu konzedieren. Soviel nämlich lässt sich schon jetzt sagen: Wenn man in Zukunft über den im Nachbarland so lange verdrängten Algerienkrieg spricht, wird dieser Roman als eine entscheidende Wegmarke gelten. Was übrigens nicht an den "reinen Fakten" liegt. Eigentlich ist ja bekannt, was zwischen 1954 und 1962 in der nach Unabhängigkeit strebenden französischen Kolonie geschehen war. Nur wem es geschah (oder wer es als Täter geschehen machte), blieb größtenteils ausgeblendet. Nach diesem Roman – er beginnt übrigens ganz konventionell mit einer Geburtstagsfeier, die erwartungsgemäß aus dem Ruder läuft – wird dies nicht mehr möglich sein.

Mauvignier, 1967 in Tours (und damit fern des literarischen Zentrums Paris) geboren, verfügt über einen solch kompakten, eindringlichen und dabei doch stets musikalisch-fluiden Stil, dass es ihm mühelos gelingt, selbst im französischen Kleinbürger- und Provinzalltag von heute die kontaminierten Spurenelemente eines verdrängten Krieges sichtbar zu machen. Wobei die wüsten Attacken des verwahrlosten Protagonisten Bernard, von seiner Schwester ohnehin eher widerwillig zum Geburtstag eingeladen, nicht einmal den Höhepunkt der Geschichte bilden, sondern nur – und zwar mit Dramatik und Aplomb – die Einstimmung für ein generationsübergreifendes Sittenbild. Weshalb hasst Bernard den Algerier Said (einen weiteren Gast) mit solcher Inbrunst, und was hatte er selbst als Halbwüchsiger erlebt, damals auf der anderen Seite des Mittelmeers?

Knapp 300 Seiten Hochspannung und Tiefenschürfung bietet der nachgeborene Autor, kongenial übersetzt von Annette Lallemand, die am Schluss des Buches noch ein kleines, informatives Glossar beigesteuert hat. Eines sei jedoch verraten, da wahrlich keine Schande: Laurent Mauvignier hat sich im Stil einige Anleihen bei António Lobo Antunes genommen, dies jedoch nicht als wüst mäandernde Masche, sondern als klug eingesetztes Instrumentarium, um mittels Sprach- und Perspektivwechsel der Vielschichtigkeit menschlicher Größe und Niedrigkeit annähernd gerecht zu werden. Nicht zufällig lautet der Titel des französischen Originals "Des hommes", ein klarer Verweis auf die krummen Grundkonstanten individuellen und kollektiven Verhaltens. Wie bereits gesagt: Ein eminent relevanter Roman - und eine Geschichte, die man nie wieder vergessen wird.

Besprochen von Marko Martin

Laurent Mauvignier: Die Wunde
Aus dem Französischen von Annette Lallemand
Dtv, München 2011
297 Seiten, 14,90 Euro
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