Tommy Wieringa: "Dies sind die Namen"

Den Flüchtlingen ein Gesicht geben

Die ungarische Polizei hat Flüchtlinge abgefangen, die über die Grenze aus Serbien einwandern wollten.
Die Migranten suchen in "Das sind die Namen" das Heilige Land. Es heißt Europa. Ihre Reise ist ein Martyrium. © picture alliance / dpa / Zoltan Gergely Kelemen
Von Marten Hahn · 03.08.2016
Tommy Wieringa gehört zu den bekanntesten Autoren der Niederlande. Mit "Dies sind die Namen" hat er überraschend schnell einen Roman zur Flüchtlingskrise von hoher Qualität geschrieben. Die Schicksale der Migranten beschreibt er sowohl sanft und weise, als auch hart und hässlich.
"Der Mensch ist ein Gott für den Menschen, und: Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen ... " So beschrieb der Staatstheoretiker Thomas Hobbes das Verhältnis von Bürgern zu Bürgern und von Staaten zu Staaten. Der niederländische Autor Tommy Wieringa hat einen großartigen Roman über diese beiden Seiten der Medaille geschrieben.
Pontus Beg ist Polizeichef im osteuropäischen Michailopol. Er liest östliche Philosophen, versucht, nicht korrupt zu werden, hat einen tauben Fuß, leidet an Tinnitus und schläft einmal im Monat mit seiner Haushaltshilfe: "Gefühle waren etwas für glückliche Menschen."

Migranten im postsowjetischen Grenzland

Während Beg sein einsames Leben lebt, schlägt sich eine Gruppe Flüchtlinge durch die Steppe im postsowjetischen Grenzland außerhalb der Stadt. Bunt zusammengewürfelt, ausgehungert, verzweifelt. Eine Schicksalsgemeinschaft ist sie nicht. Hier gilt: "Homo homini lupus". Wer nicht mehr kann, wird liegen gelassen, zuvor aber auf Brauchbares untersucht: Schuhe und Nahrung.
Tommy Wieringa, geboren 1967, gehört seit seinem Romanerfolg "Joe Speedboat" zu den bekanntesten Autoren der Niederlande. Mit "Dies sind die Namen" hat er überraschend schnell einen Roman zur Flüchtlingskrise geschrieben, der die Themen Migration, Identität und Glaube in John Steinbeck'scher Qualität behandelt.
Will Wieringa in Ruhe schreiben, geht er seit Jahren regelmäßig ins Kloster. "Ich bin nicht religiös, aber mich fasziniert Religion." Diese Faszination verleiht dem Roman eine zweite Ebene. Neben der Tierwerdung von Menschen beobachtet der Leser, wie sowohl der Polizist Beg als auch die verzweifelten Steppenwanderer zum Glauben finden.

Suche nach dem Heiligen Land

Alle, Beg und die Migranten, suchen das Heilige Land. Begs Weg ist ein spiritueller. Dank eines jiddischen Liebeslieds entdeckt der Beamte, dass er jüdisch ist und findet fortan Zuflucht und Zugehörigkeit in den Gesprächen mit Michailopols letztem Juden, einem alten Rabbi. In der Steppe verläuft die Glaubensfindung brutaler. Das Heilige Land heißt Europa, und die Reise der Flüchtlinge ist ein Martyrium. "Wie die Juden waren sie durch die Wüste gezogen und wie die Juden hatten sie die Gebeine eines der Ihren auf der Reise dabei gehabt", beobachtet Beg. Der Titel des Romas bezieht sich daher auf das 2. Buch Mose: "Dies sind die Namen der Kinder Israel, die mit Jakob nach Ägypten kamen; ein jeglicher kam mit seinem Hause hinein."
Ironischerweise kommt "Dies sind die Namen" bis kurz vor Ende fast ohne Namen aus. Die Flüchtenden werden nur ihren Funktionen und äußeren Kennzeichen nach beschrieben: die Frau, der Wilderer, der Junge. "Sie waren zu Menschen ohne Geschichte geworden, für sie zählte nur noch die unmittelbare Gegenwart."
Der Stärke der Charaktere tut die Namenlosigkeit keinen Abbruch, sie unterstreicht vielmehr die universelle Kraft des Romans. Dazu kommt Wieringas Sprache, übertragen von Bettina Bach: Trotz der menschlichen Tragödien ist sie zurückgenommen und unaufgeregt. Alles ist sanft und weise und hart und hässlich. Hier koexistieren Gott und Wolf.

Tommy Wieringa
"Dies sind die Namen"
Aus dem Niederländischen von Bettina Bach
Hanser Verlag, München/Wien 2016
272 Seiten, 22 Euro

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