Tomás Kafka, Diplomat und Übersetzer

“Europa darf seine Ideale nicht ausverkaufen”

Tomáš Kafka
Tomáš Kafka © imago/Waldemar Boegel
Tomáš Kafka im Gespräch mit Peter Lange · 30.01.2016
Die Tschechische Republik versteht sich als Nahtstelle zwischen West-, Mittel- und Osteuropa. Was sich daraus für die Politik in Prag ergibt, besprechen wir mit Tomáš Kafka. Der Diplomat hat sich auch als Übersetzer deutschsprachiger Autoren einen Namen gemacht.
Für die Verantwortlichen in Prag ergibt sich daraus oftmals ein heikler Drahtseilakt. So etwa in der Flüchtlingspolitik, bei der kontroverse Auffassungen in den Mitgliedsstaaten der EU aufeinanderprallen. Auch das deutsch-tschechische Verhältnis ist nicht frei von Irritationen, wenn es um den Umgang mit Millionen von Migranten geht.
Deutschlandradio Kultur: Unser Gesprächsgast heute ist Tomáš Kafka. Er ist Leiter der Mitteleuropa-Abteilung im tschechischen Außenministerium. – Einen schönen guten Tag, Herr Kafka.
Tomáš Kafka: Schönen guten Tag, Herr Lange.
Deutschlandradio Kultur: Die erste Frage ist naheliegend, vielleicht auch ein bisschen albern, und sicherlich schon tausendmal von Ihnen beantwortet: Verwandt mit dem Schriftsteller Franz Kafka?
Tomáš Kafka: Weder verwandt noch verschwägert, aber doch in einer guten Gesellschaft. Denn mein Vater war Franz Kafkas Übersetzer ins Tschechische, was sich für manche Leute - nicht in Deutschland, aber sonst in der ganzen Welt - ein bisschen komisch anhören mag. Denn viele Leute gehen oder gingen davon aus, dass Franz Kafka tschechisch geschrieben haben müsste. Das ist selbstverständlich nicht der Fall. Deswegen, er war eine "Nische" für meinen Vater. Er kriegte sogar einen Übersetzerpreis in der damaligen Tschechoslowakei für seine Übersetzung von "Das Schloss", welches exakt im gleichen Jahr zur Welt gekommen ist wie ich geboren war, 1965. Deswegen war ich angeblich eine Weile gefährdet, dass mein Vater aus purer Freude mir den Vornamen Frantisek verpassen wollte. Aber meine Mutter war stärker.
Deutschlandradio Kultur: Ihr Onkel Frantisek Cerny war in den 1990er Jahren Botschafter in Deutschland und leitet heute das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren. Sie selbst bleiben ja dieser Familientradition in gewisser Weise treu und übersetzen deutsche Gegenwartsautoren – gerade erst eine Novelle von Thomas Brussig. Woher kommt die Verbindung Ihrer Familie zur deutschen Kultur in einer Zeit, in der eigentlich das Deutsche hier verfemt war?
Berlin ist das wahre Tor für Tschechen nach Europa
Tomáš Kafka: Die Anfänge sind für mich schwierig zu eruieren, denn meine beiden Eltern sind zu früh gestorben, um mir alles zu erzählen. Aber als ich damit groß wurde, also tagtäglich mit der Bibliothek meines Vaters konfrontiert zu sein, denn er war nicht nur Übersetzer von Franz Kafka, sondern auch von Günter Grass, Heinrich Böll. Und er war auch ein persönlicher Freund von beiden, und er war eine Art Vermittler in den 60er Jahren zwischen der modernen deutschen und der tschechischen Literatur. Das war für mich immer eine Art nicht von Bedrohung, aber vielleicht eine Herausforderung, eines Tages alles zu kapieren, was sich in der Bibliothek verbarg.
Und selbstverständlich, was den größten Appetit machte, das war das Buch "Aus dem Tagebuch einer Schnecke" von Günter Grass, wo drunter geschrieben ist offiziell auch "für Stephan und Tomáš". Stephan ist mein Bruder, Tomáš war ich. Da dachte ich mir so: Wenn ich schon durch diese "offizielle Widmung" in die deutschsprachige Literatur geholt wurde, dann muss ich das eines Tages selber auch irgendwie mittragen. Es kann sein, dass etwas Ähnliches auch meinem Vater widerfahren konnte. Ich glaube, dass auch für ihn - zumindest was mir berichtet wurde - nicht nur die Literatur per se war oder die Sprache per se, sondern die Freundschaften, aus denen sich seine Leidenschaft irgendwie abgeleitet hat.
Und für mich ist es das Gleiche. Sie erwähnten Thomas Brussig. Und ich bin sehr froh, dass wir sehr gute Freunde sind. Und das war für mich auch der Auslöser, warum ich ihn auch unbedingt übersetzen wollte.
Deutschlandradio Kultur: Es lernen wieder sehr viele Tschechen Deutsch. Ich habe gelesen, 300.000 Schüler, Studenten, Erwachsene. Mit welchen Erwartungen schauen diese Menschen insgesamt so auf dieses Nachbarland Deutschland? Gibt's da so ein Muster?
Tomáš Kafka: Ich glaube, früher in den 90er Jahren war das mehr aus wirtschaftlichen Gründen alles angespornt. Es war klar, viele deutsche Investoren kamen hierher. Das war selbstverständlich auch eine bessere Qualifikation, sich auch auf Deutsch verständigen zu können. Aber ich würde sagen, dass zunehmend auch mit dem neuen Bild von Berlin aus das wahre Tor für uns Tschechen nach Europa – es ist nicht Brüssel, es ist auch nicht London. Vielleicht sind einige EU-Profis davon überzeugt, dass es Brüssel ist. Einige, sagen wir, Anglophile wollten, dass wir auch das "splendid island" sind, also wie Großbritannien...
Deutschlandradio Kultur: Sie hätten auch eine Schweiz werden können...
Tomáš Kafka: ...ja, aber das war auch eine Weile lang eine Überlegung in Deutschland, eine größere Schweiz zu werden. Aber ich glaube, es ist weder uns noch den Deutschen gegönnt. Das heißt, Schweizer sind Schweizer. Und für mich ist es jetzt sehr, sehr positiv. Denn als wir Ende der 90er Jahre mit einer Losung angetreten waren, als wir den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds gründeten quasi, also im Sog der deutsch-tschechischen Deklaration, das war ein Versuch, den deutsch-tschechischen Beziehungen quasi eine neue Dynamik zu verleihen.
Für mich war es auch eine Herausforderung, meine Landsleute davon zu überzeugen, dass auch die deutsch-tschechischen Beziehungen Spaß machen können. Und ich bin jetzt zunehmend davon überzeugt, dass Deutschland nicht nur Teil unserer alltäglichen Wirklichkeit ist, sondern dass für jüngere Menschen, aber auch für viele andere Leute jetzt einleuchtend ist, dass wir mit den Deutschen sehr viele Interessen teilen. Und wenn wir hier etwas für die Region erreichen können, dann ist es nur naheliegend, wenn wir es mit unseren deutschen Nachbarn und Partnern machen würden, dann würden die Chancen sogar noch besser sein.
Vielleicht transferiert sich diese neue Sichtweise auch in die größere Bereitschaft, Deutsch zu lernen und nicht nur auf Englisch sich zu verständigen.
Deutschlandradio Kultur: Nun waren die Zeiten nicht immer so. Das deutsch-tschechoslowakische und später deutsch-tschechische Verhältnis war viele Jahrzehnte belastet durch die Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945 und durch die Auseinandersetzung um die sogenannten Benes-Dekrete. – Ist das ein Thema, das aus Ihrer Sicht nun endgültig abgeräumt ist? Oder spielt das in irgendeinem Grad immer noch eine Rolle?
"Wir haben in Tschechien einen offenen Diskurs"
Tomáš Kafka: Das wird, ehrlich gesagt, nie abgeräumt werden. Und das ist auch gut so. Denn was wir miteinander teilen, das ist unsere gemeinsame Geschichte. Ich verbrachte viele Jahre in Irland zum Beispiel. Da gab es vielleicht eine enorme Ähnlichkeit, eine mental ähnliche zwischen Tschechen und Iren, aber irgendwie keine gemeinsame Vergangenheit. Das endete schlussendlich darin, dass wir uns nicht besonders viel zu sagen hatten, weil, man möchte schon nicht nur zuhören, sondern auch etwas sagen und dabei verstanden sein.
Das haben wir mit unseren mitteleuropäischen Nachbarn, nicht nur mit den Deutschen schon längst gemein hier. Und es ist gerade deswegen für uns sehr wichtig, dass – auch wenn die Erfahrungen nicht immer positiv sind, aber die geben uns gewissermaßen die Chance, ein klein bisschen nicht nur dazuzulernen, sondern auch über uns hinauszuwachsen. Das ist immer gut, gerade in der Welt, die zunehmend kompliziert wird und wo wir uns einen bestimmten Mut quasi gemeinsam vermitteln oder irgendwie aneignen sollten.
Wenn wir Dinge, die mit der komplizierten Vergangenheit zusammenhängen, zivilisiert ordnen und diskutieren können, dann gibt es uns vielleicht die Zuversicht, dass wir es auch in Bezug auf die Zukunft hinkriegen werden.
Deutschlandradio Kultur: Im letzten Jahr fiel auf, dass tschechische Kommunalpolitiker auf den offiziellen Gedenkfeiern gesprochen haben in Brünn, in Usti, also Aussig, und da die Gewalttaten an der deutschen Bevölkerung verurteilt haben. Andererseits wurde der Minister Belobradek heftig kritisiert, weil er im Sudetendeutschen Haus in München einen Kranz oder ein Gebinde niedergelegt hat. Das erweckt so ein bisschen den Eindruck, dass bei diesem Thema die tschechische Gesellschaft unten doch ein wenig weiter ist als die politische Spitze oben. – Ist das so?
Tomáš Kafka: Es ist schwierig zu sagen. Ich würde sagen, was wir in der tschechischen Gesellschaft haben in Bezug auf Deutschland oder auf die Geschichte schlechthin, das ist ein offener Diskurs. Seit der deutsch-tschechischen Deklaration, ein Dokument aus dem Jahre 1997 - wo wir uns beiderseits eingeräumt haben, die eigene rechtliche Verfassung oder die Auslegung der Vergangenheit beizubehalten, aber dabei quasi immer wieder zu versuchen, diese schwierige Zeit gemeinsam zu überwinden - das hat quasi die Bühne offen gemacht für jedermann, sich soviel Verantwortung zu schultern für die Vergangenheit, wie sie oder er haben möchte. In der Hinsicht gilt das für die Politiker wie für die "Otto Normalverbraucher" genauso, also dass jeder für sich selbst sprechen kann.
Wir haben vielleicht im Unterschied zu Deutschland oder zu Polen keine offizielle Geschichtspolitik hier. Es ist viel offener. Es gab Zeiten, wo es ein Nachteil war, wo es viel einfacher wäre, wenn wir hier quasi so einen Kanon hätten, also, das ist alles irgendwie von dem Kanon abgedeckt: "Wunderbar oder es ist schade, aber da kann man nichts tun". Jetzt ist seit – ich würde fast schon sagen – Jahrzehnten so, dass sich hier bestimmte Debatten und bestimmte Meinungen je nach dem sichtbar machen, wie die Protagonisten von den Sichtweisen her mutig oder aufgeschlossen sind. In dieser Hinsicht kann man hier manches erleben.
Deutschlandradio Kultur: Aber das, was wir Aufarbeitung der Vergangenheit bei uns nennen, ist dann hier auch noch nicht abgeschlossen.
Tomáš Kafka: Das wird auch nicht so abgeschlossen sein. Es war immer so, dass Konflikte bei uns angefangen haben und sehr häufig erst auf der letzten Bühne geendet haben. Der Erste, der Zweite Weltkrieg, aber auch die Verträge zwischen der Bundesrepublik im Rahmen der Ostpolitik mit den osteuropäischen Ländern, kommunistischen Ländern - Prag war immer sozusagen ein Schlusslicht, wo vielleicht also die große Aufmerksamkeit schon woanders investiert wurde.
Deutschlandradio Kultur: Wie im Windschatten.
Tomáš Kafka: Ja. Und manchmal war ich geneigt, meinen deutschen Freunden zu sagen: Ja, auch wenn die Geschichte hier immer irgendwie zu Hause war, niemand kriegte den Eindruck, dass sie in der ersten Reihe sitzen. Vielleicht war das auch einer der Gründe, warum die tschechische Aufarbeitung der Geschichte ein bisschen zaghafter ist. Es ist beständig, aber es ist ohne all diese großen – sagen wir – "ups und downs", weil im Grunde genommen die europäischen Diskurse schon woanders sind.
Die Gründung des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds war uns sehr wichtig
Deutschlandradio Kultur: Die Grundlage für die deutsch-tschechischen Beziehungen ist der Nachbarschaftsvertrag von 1992 und die deutsch-tschechische Erklärung, die Sie gerade schon erwähnt haben, von 1997. Im letzten Jahr hinzugekommen ist eine Erklärung der Außenministerien über einen strategischen Dialog. – Welchen Stellenwert hat diese Erklärung im Verhältnis zu den beiden anderen Dokumenten?
Tomáš Kafka: Es ist, wie Sie es schon gesagt haben, eine Art Addition. Es kam zustande, wohl wissend, dass wir hier diese zwei großen Verträge haben, oder einen Vertrag und eine Deklaration. Es baut darauf auf. Ohne beides wäre es kaum möglich.
Und wenn ich es ein klein bisschen salopp sage: Erstens - auch wenn es schon so in der Deklaration angelegt ist, dass wir uns gemeinsam nicht nur auf die bilateralen Beziehungen konzentrieren möchten, sondern auch Verantwortung für Europa und unsere Zivilisation wahrnehmen möchten - in dem strategischen Dialog ist es nicht ausschließlich, aber schon sehr auf unsere gemeinsame Verantwortung gegenüber der EU, gegenüber der mitteleuropäischen Region ausgerichtet. Und darüber hinaus, was für die Deklaration sehr wichtig war, das war die Gründung des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds, wo wir den Menschen Chance gaben, dass sie sich die eigenen deutsch-tschechischen Beziehungen ausgestalten. Das war mehr – sagen wir – ein Geschenk an die NGOs, an die Privatpersonen. Denn die Administrationen waren davon eigentlich quasi ausgeschlossen, denn da war auch Geld mit dabei verbunden, was die beiden Staaten gaben. Und dann wäre es ein bisschen komisch, wenn man sich das Geld wiederum zurückholen wollte.
Jetzt aber mit dem strategischen Dialog möchten wir auch den Verwaltungen, den Bürokraten die Chance geben, ein ähnliches Team-Building zu erleben, das die NGOs und die normalen Bürger dank des Zukunftsfonds haben.
Deutschlandradio Kultur: Die Regierungen sollen im Grunde nachholen, was die Zivilgesellschaft schon gemacht hat.
Tomáš Kafka: Die tun es sowieso. Die Kooperation zwischen den Ressorts ist sehr gut, aber manchmal auch – sagen wir – von den Tagesnöten diktiert. Jetzt mit dem strategischen Dialog möchten wir Räume schaffen, wo die Kollegen in Ministerien ein bisschen über den Tellerrand hinaus denken könnten. Denn das 21. Jahrhundert wird definitiv ganz anders sein als das 20. Jahrhundert, was wir zwar vielleicht nicht haben möchten, aber es wird so kommen. Und dann ist es gut, dass auch die Regierungen mutiger dieser Situation ins Auge schauen.
Und für uns Tschechen ist es sehr wichtig, dass wir über das 21. Jahrhundert und die neuen Herausforderungen gemeinsam mit unseren deutschen Partnern nachdenken werden.
Deutschlandradio Kultur: Im Rahmen dieses strategischen Dialogs hat es schon Initiativen gegeben. Vor wenigen Tagen war Doris Schröder-Köpf in Prag, die Frau des früheren Bundeskanzlers. Die ist jetzt Beauftragte der niedersächsischen Regierung für Migration. Sie war bei Ihrem Premierminister Sobotka. Es gibt eine Migrations-AG. – Was passiert da genau?
Tomáš Kafka: Das war jetzt das erste Treffen. Frau Schröder-Köpf war eine von – glaube ich – circa fünfzehn. Es war eine recht zahlreiche Delegation, was uns sehr gefreut hat. Das zeigte, dass wir auf beiden Seiten sehr daran interessiert sind, auch Migration und Integration als eine gemeinsame Aufgabe zu betrachten. Denn man kann es häufig hören, aber man muss es irgendwie auch in die Praxis umsetzen, dass wir nach einer europäischen Lösung suchen müssen. Denn wenn auf der Ebene der Nationalstaaten alles gehandhabt werden soll, werden wir früher oder später vielleicht in so eine Art alte Verfasstheit verfallen, wo alle nur an sich selbst dabei denken werden. Und das würde die Chance, wirklich eine systembezogene Lösung oder etwas zu finden, noch komplizieren. Es ist schon kompliziert genug.
Und für uns ist das wichtig - das ist, glaube ich, auf beiden Seiten so. Es wäre nicht fair zu sagen, dass wir nicht Verschiedenheiten haben, die haben wir. Aber was uns beiden sehr wichtig ist, ist, dass wir in Europa das Vertrauen in die Kooperation stärken müssen. Denn am Anfang stand von all den Krisen, die uns getroffen haben in den jüngsten zehn Jahren: Der gemeinsame Anfang war die Erosion von dem gemeinsamen Vertrauen. Und jetzt, gerade in Bezug auf die Migration, wenn wir uns nicht vertrauen, werden wir – Quoten hin, Quoten her – gar nichts packen.
Die tschechische Gesellschaft kann viel von der deutschen lernen"
Wir wissen zum Beispiel in Bezug auf die Integration, die tschechische Gesellschaft kann sehr viel von der deutschen lernen. Das ist einer der Pfeiler hier. Der andere Pfeiler ist: Der Leiter der deutschen Delegation war der Staatsminister Roth. Der sagte auch: Was ihn frustriert, ist, dass Europa oder die europäischen Staaten innerhalb der EU sehr zaghaft Beschlüsse von den europäischen Räten umsetzen.
Deutschlandradio Kultur: Zaghaft oder gar nicht.
Tomáš Kafka: Oder gar nicht, ja. Wir sehen das und wir können auch verstehen, dass auf der deutschen Seite schon eine gewisse Ungeduld ist. Das wäre nicht gut, nicht nur für uns, sondern auch für die deutsche Gesellschaft an sich. Deswegen möchten wir hier gemeinsam Dinge erörtern, selbstverständlich auch dann umsetzen, die es vielleicht uns Tschechen ermöglichen, ein bisschen aufgeschlossener zu sein oder weniger skeptisch zu sein, und den Deutschen es ermöglicht, ein bisschen geduldiger zu sein.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt sind wir bei dem zentralen Thema, was uns dieser Tage alle beschäftigt, wo man auch hinschaut. Wenn Sie sich die Emigrationspolitik der deutschen Regierung jetzt anschauen - im letzten halben Jahr rund eine Million Flüchtlinge - mehr mit Bewunderung, mit Verwunderung oder hat das was Abschreckendes?
Tomáš Kafka: Eigentlich die Bewunderung. Denn ich sehe das, was jetzt in Europa oder weltweit geschieht, als einen Kampf zwischen zwei Prinzipien. Es ist das Prinzip des idealistischen Ansatzes und der mehr sicherheitsbezogene Ansatz.
Es ist mir schon klar, dass die Bundeskanzlerin für eine machbare Lösung optiert, aber unter der Bewahrung des europäischen Idealismus. Auch wenn wir jetzt Kompromisse machen überall, auch in Deutschland, der Sockel vom Idealismus, von dem wir jetzt vielleicht ein bisschen runter gehen müssen, ist hoch genug, dass die Idealisten sich jetzt immer noch als Bestandteil des Diskurses gut vertreten können. Das finde ich sehr wichtig.
Deutschlandradio Kultur: Das geht jetzt von einer relativ positiven Annahme aus. Man kann aber auch sehen, wie Europa wieder in zwei Hälften auseinander driftet. Es gibt die Westeuropäer, die ungefähr diesen idealistischen Ansatz haben...
Tomáš Kafka: ...aber auch in Westeuropa ist der idealistische Ansatz eine Art Achterbahn.
Deutschlandradio Kultur: Wir wissen, dass es auf der anderen Seite die Visegrad-Gruppe gibt – Polen, Ungarn, Slowakei. Tschechien gehört auch dazu. Und meine Wahrnehmung ist, dass Tschechien ein bisschen in der Mitte steht und Loyalitäten in beide Richtungen empfindet, aber auch ein bisschen dadurch zerrissen wird. – Ist das ein Eindruck, den Sie teilen?
Tomáš Kafka: Ja. Ich glaube, wir alle sind auch persönlich zerrissen. Denn manchmal denke ich, Gott sei Dank, ich bin jetzt nicht in einer Position, wo ich im Alleingang beschließen sollte, was geschieht. Denn ich glaube, es ist alles so komplex. Und ich glaube, dass in der tschechischen Gesellschaft eine Überzeugung reift. Die sind vielleicht im Moment weniger mutig und weniger optimistisch als die Deutschen, aber die wissen, dass – wenn es zu der Befestigung dieses Gegensatzes Ost-West kommen sollte – es dann noch schlimmer ist, als sich nicht irgendwie auf so eine gemeinsame Kompromisslösung zu einigen.
Deutschlandradio Kultur: Die Migrationspolitik ist ja nur eine Facette. Es gibt ja jetzt auch generell die Frage, welches Bild von Demokratie haben die, die jetzt in Polen an der Macht sind oder in Ungarn. Wie verträgt sich das mit den Vorstellungen einer liberalen rechtsstaatlichen, auf Gewaltenteilung gebildeten Demokratie? Wo steht da Tschechien? Ich sehe, die tschechische Regierung guckt eigentlich nach Westen, muss aber aufpassen, dass sie im eigenen Land nicht in Schwierigkeiten gerät und auch nicht gegenüber den Partnern, die das ein bisschen anders sehen.
Tomáš Kafka: Sie haben es schon so erwähnt. Wir haben Loyalitäten. Und Mitteleuropa war oder ist davon geprägt, dass man hier Dinge nicht so direkt nehmen muss oder nehmen kann. Man hat hier immer noch den zweiten Blick. Vielleicht kommt das daher, dass wir zwar westeuropäisch denken, aber es ist nicht unser Copyright. In dieser Hinsicht ist eine bestimmte Distanz hier schon so veranlagt.
"Es ist für uns sehr wichtig, dass die ungarischen Kollegen nicht alleine fühlen"
Mit unseren polnischen und ungarischen Kollegen und Freunden haben wir unsere Debatten. Auch Visegrad ist – da sind wir, glaube ich, ganz ehrlich – nicht eine Maschinerie, um müde Kompromisse zu erzielen. Wenn wir uns nicht einigen können, dann möchten wir gern demokratisch Dinge ausdiskutieren und vielleicht die Debatte dazu nutzen, um die Probleme besser zu verstehen. Das ist bisher absolut nicht beschädigt. Wir wissen, dass jetzt eine ganz emotionale Debatte in Warschau verlief oder immer noch verläuft. Aber es ist irgendwie auch unser Verständnis, dass die polnische Demokratie ein bisschen romantischer schon immer war als die tschechische oder vielleicht sogar die deutsche. Dafür haben wir jetzt auch ein Verständnis, müssen es haben, dass die Polen vielleicht das jetzt auch irgendwie ausleben möchten.
Und in Ungarn, glaube ich, da ist im Moment wichtig die Tatsache, wenn ich das jetzt ein kleines bisschen kulturell einordne, die Neigung unserer ungarischen Freunde, ein bisschen melancholisch zu sein. Die leiden darunter, dass ihre Sprache nicht so verstanden wird...
Deutschlandradio Kultur: ...das passiert tschechischen...
Tomáš Kafka: ...aber wir haben dann die Polen. Die Ungarn glauben zumindest, dass wir uns klammheimlich immer irgendwie mit unseren Sprachen doch verständigen können. Und für uns ist sehr wichtig, dass die ungarischen Kollegen sich nicht alleine fühlen. Denn das ist das Schlimmste in Europa, in Mitteleuropa schlechthin, dass das sein könnte, wenn Länder in gesellschaftliche Isolation geraten. Das ist vielleicht auch für uns eine der Antriebskräfte, Debatten aufrecht zu erhalten. Ich glaube auch, das ist immer noch in allen Ländern das Allerwichtigste, nicht den Anschluss zu verlieren, die EU als eine wirkungsvolle Einheit aufrecht zu erhalten.
Nur jetzt sind die Zeiten komplizierter. Früher hieß es, eine gute Formulierung wäre gut genug, um bestimmte Verschiedenheiten unter den Teppich zu kehren. Jetzt kommt irgendwie alles unter dem Teppich raus.
Deutschlandradio Kultur: Keine Zeit mehr für faule Kompromisse.
Tomáš Kafka: Ja. Ich glaube, das erwischt uns alle. Es ist nicht nur in Mitteleuropa. Es ist jetzt überall. Nur einige Länder sind weniger sichtbar und einige sind es mehr.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir mal kurz auf das Verhältnis von Innen- und Außenpolitik Tschechiens zu sprechen kommen. – Ich will Sie jetzt nicht in Versuchung führen, irgendwelche Äußerungen Ihres Präsidenten zu kommentieren, das ist ja auch nicht Ihre Rolle, aber er hat damals im Wahlkampf gesagt, er verstehe sich nicht als Stimme der oberen Zehntausend, sondern als die Stimme der unteren zehn Millionen. – Spricht er nach Ihrem Eindruck, wenn er sich äußert, für die Mehrheit der Bevölkerung?
Tomáš Kafka: Da ist wiederum die Sache mit dem Diskurs. In der tschechischen Gesellschaft wird sehr viel geredet. Vielleicht ist das jetzt auch einer der Gründe, warum sich Debatten und Minidebatten perpetuieren, weil wir im Grunde genommen auf die Probleme der Welt hier sehr häufig verbal eingehen. Das kann in Zeiten wie jetzt, wo man den Wörtern größeres Gewicht beimisst, als wir es gewöhnt waren...vor ein paar Jahren gab es ähnliche Bonmots, aber niemand hätte sich aufgeregt, weil die Wirklichkeit noch viel gelassener war.
Die Flüchtlinge werden uns lange beschäftigen
Was sich änderte, ist, dass wir noch nicht wissen, wie wirkungsvoll die Wörter sind. Auch der Präsident testet die Situation. Aber heute sind wir zwei, drei Tage nach den jüngsten Bonmots und ich glaube, die Wirkungskraft ist nicht besonders groß, nicht mehr. Aber für den Tag oder für die Tage ist es so, dass uns vielleicht der Präsident einen gewissen Dienst tut, dass wir auch dank seiner Aussagen darüber nachdenken können, was heutzutage die Macht der Wörter ist.
Deutschlandradio Kultur: Nun ist in Deutschland die Angst vor Fremden dort am größten, wo am wenigsten Ausländer leben. Tschechien und auch die Slowakei haben sehr niedrige Ausländeranteile, sind vergleichsweise homogene Gesellschaften, was mal anders war. Das waren auch mal multiethnische Gesellschaften. – Muss da erst wieder ein Lernprozess stattfinden? Braucht das einfach nur Zeit?
Tomáš Kafka: Ja. Aber auf der anderen Seite, wir haben hier auch relativ große Gemeinden von Vietnamesen oder von Ukrainern. Nach dem Balkankrieg kamen auch viele Leute aus Bosnien oder aus Ex-Jugoslawien. Die tschechische Gesellschaft hat sich damit ganz wohl abgefunden. Es ist jetzt nicht nur die Frage, die Flüchtlinge als etwas zu sehen, was uns ein Jahr beschäftigt, und dann werden wir weiterschauen. Es ist nicht eine Kraftprobe. Es ist jetzt, sagen wir, auch ein eventueller Anfang von etwas, wo niemand richtig weiß, wo es endet.
Ich glaube, das ist jetzt reine Spekulation: Wenn hier eine Klarheit herrscht, das sind jetzt – sagen wir – fünftausend oder zehntausend oder ich weiß nicht was, eine abgerundete Nummer und dann nix mehr, dann wären die Ängste in der Gesellschaft anders. Aber jetzt sagt man irgendwie, aber vielleicht ist es ein Präzedenzfall. Es sind nicht eintausend oder zweitausend, es ist jetzt irgendwie ein Anfang, wo wir zum Schluss vielleicht von Zigtausenden reden werden. Und das ist etwas, was die Situation unheimlich verkompliziert, weil, die Dinge sind zwar sehr existenziell für die Flüchtlinge. Es ist furchtbar, dass sie sich solche Debatten mit anhören müssen oder ausbaden müssen. Aber für die Gesellschaften hier ist es auch sehr kompliziert, denn die wissen überhaupt nicht: Sind wir am Anfang eines Prozesses, welcher das ganze 21. Jahrhundert begleiten wird, oder ist es etwas, wo vielleicht eines Tages mit dem Schluss des Krieges in Syrien diese Welle auch dahinsiechen wird?
Deutschlandradio Kultur: Was ist denn Ihre persönliche Prognose? Man kann ja auch sagen, dieses ist in den Zeiten der Globalisierung das Ende von Europa als eine gewissermaßen "gated community", wo Wachschutz drum herum steht und nur die Pizza kommt rein und der Müll kommt raus.
Tomáš Kafka: Ich glaube - das sage ich wirklich sehr persönlich -, das 21. Jahrhundert wird leider Gottes das, was wir in dem 20. Jahrhundert erreicht haben, diese Globalisierung der Werte und Ökonomien, gewaltig infrage stellen. Denn es sind nicht nur die Migrationswellen. Es ist auch quasi die zunehmende Entfremdung zwischen bestimmten Zivilisationen. Diese Woche erlebten wir beim dem Besuch des iranischen Präsidenten in Italien und auch in Frankreich die Debatten, ob die Statuen verhüllt sein sollen oder nicht. Das sind quasi Hinweise darauf, dass die Zeiten von der alten guten Aufklärung vorbei sind. Und wir werden uns vielleicht darauf einstellen müssen, dass die Vorstellung, dass wir in der ganzen Welt mehr oder weniger das Gleiche wollen - und es nur eine technische Frage ist, wie man es erreichen kann -, zum 20. Jahrhundert gehört, welches in Europa brutal war, aber ansonsten war es irgendwie von einem emanzipatorischen Gedanken getragen.
Im 21. Jahrhundert, ich fürchte, statt Emanzipation werden wir zunehmend Selektion und Separation erleben. Und für uns in Europa ist wichtig, dass wir dabei nicht unsere Ideale ausverkaufen.
Deutschlandradio Kultur: Sie waren selbst Botschafter in Irland. Gibt es etwas, was sowohl die Deutschen als auch die Tschechen von den Iren lernen können?
Tomáš Kafka: Die Fähigkeit, den Tag zu genießen. Die Iren sind imstande, den Tag zu zelebrieren, auch wenn sie nicht wissen, was das Morgen bringen wird. Und wir sind vielleicht allzu sehr hier darauf eingestellt, was das Morgen bringen würde, so dass wir manchmal den laufenden Tag vernachlässigen.
Deutschlandradio Kultur: Herzlichen Dank, Herr Kafka.
Tomáš Kafka, Jahrgang 1965. Diplomat und Übersetzer. Anfang der neunziger Jahre war Kafka in der tschechischen Botschaft in Berlin für Kultur- und Pressearbeit zuständig. Später war er Geschäftsführer des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, dessen Aufgabe es ist, Brücken zu bauen zwischen Deutschen und Tschechen. Nach einer mehrjährigen Tätigkeit als Botschafter seines Landes in Irland kehrte Kafka 2014 nach Prag zurück, wo er die Mitteleuropa-Abteilung im tschechischen Außenministerium leitet.
Neben seiner politisch-diplomatischen Arbeit hat sich Tomáš Kafka einen Namen gemacht als Übersetzer deutschsprachiger Autoren wie Bernhard Schlink, Durs Grünbein und Thomas Brussig. 2001 wurde Kafka mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
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