Todessehnsucht

Wenn Schriftsteller ihren Freitod schreibend vorwegnehmen

54:10 Minuten
Schattenbild 2012
Strahlt die Todessehnsucht der Autoren auf den Leser ab? © picture alliance / dpa / Arno Burgi
Von Florian Felix Weyh · 11.04.2021
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Die Schriftsteller Jean Améry, Wolfgang Herrndorf, Erich Loest, Sándor Márai schrieben über den eigenen Tod, bevor sie aus dem Leben schieden. Strahlt ihre Todessehnsucht auf den Leser ab oder feiert sie das Leben?
"Sie können nicht wählen, nie zu sterben! Aber Sie können wählen zu sterben, wann Sie wollen. Und dem Zwangstod – Sie können dem Zwangstod in einer persönlich und subjektiv erlebten Freiheit entgehen", so hat Jean Améry den Selbstmord einmal auf den Punkt gebracht.

Man braucht eine Exit-Strategie

"Erich Loest war gestern im Alter von 87 Jahren in Leipzig aus dem Fenster eines Krankenhauses in den Tod gestürzt. Die Polizei geht von Suizid aus", hieß es im Radio.

Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen, Suizidgefährdete und ihre Angehörigen: Wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befinden, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800-1110111 (kostenfrei) und 0800-1110222 (kostenfrei).

Etliche Jahre zuvor schrieb Loest: "Ich überlege: Überfiele mich der Krebs, würde ich nicht kämpfen, kein Aufbegehren mit Chemotherapie und anderen Foltern. Pflegeheim, Rollstuhl – nicht mit mir. Die Mütter einiger Freunde, allesamt über neunzig, höre ich, klammern sich an ihre Wohnungen, an das vertraute bisschen Leben und verursachen dabei nichts als Mühe und Aufregung. Bloß nicht ins Altersheim, und schließlich doch. Ich werde klüger sein."
Schwerkrank vollzog Erich Loest im September 2013 mit 87 Jahren, was er im Tagebuch vorgedacht hatte. Er stürzte sich aus dem Fenster einer Leipziger Klinik. Auch Jean Améry, Sándor Márai, Cesare Pavese und Wolfgang Herrndorf nahmen ihren Selbstmord in Texten vorweg.

Begleitlektüre zum Sterben

Wolfgang Herrndorf schrieb in seinem Blog, den alle mitlesen konnten,
"Ich bestehe nur noch aus einem einzigen Gedanken. Ich erzähle C. davon, weil wir das Abkommen haben, alles zu erzählen, und dass ich mich, wenn ich wie durch ein Wunder geheilt würde, dennoch erschießen würde. Ich kann nicht zurück. Ich stehe schon zu lange hier."
Dass die Lebenszeit unweigerlich schrumpft, bis der letale Nullpunkt erreicht wird, bekamen Leser selten plastisch und mit derart schonungsloser Konsequenz vor Augen geführt. Herrndorf zwang zum Hinsehen, er starb öffentlich.
Eine befremdliche Variante persönlicher Autonomie: der unfreiwillige und vorsätzliche Tod im selben letzten Atemzug. Herrndorf schrieb: "Ich habe mich damit abgefunden, dass ich mich erschieße. Ich könnte mich nicht damit abfinden, vom Tumor zerlegt zu werden, aber ich kann mich damit abfinden, mich zu erschießen. Das ist der ganze Trick."
"Wolfgang Herrndorf starb nicht an Krebs", twitterte eine enge Freundin am 27. August 2013. "Darauf kam es ihm an."

"Exit. Wenn Schriftsteller ihren Freitod schreibend vorwegnehmen"
Ein Feature von Florian Felix Weyh
Es sprachen: Wolfgang Condrus, Brigitte Dölling, Romanus Fuhrmann, Markus Hoffmann, Joachim Kerzel und Friedhelm Ptok
Ton: Bernd Friebel
Regie: Clarisse Cossais
Redaktion: Jörg Plath
Die Sendung wurde erstmals 2014 ausgestrahlt.

Das Manuskript zur Sendung als PDF und im barrierefreien Textformat.