Todesfalle Ostsee

Die vergessenen DDR-Flüchtlinge

30:40 Minuten
Günter Wosnitza hat graue Haare, ein blaues Hemd und steht am Strand vor einer Gedenktafel.
Zeitzeuge Günter Wosnitza hat auf der Halbinsel Priwall als Kind tragische Fluchtversuche von DDR-Bürgern miterlebt. © Michael Frantzen
Von Michael Frantzen · 13.08.2021
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Wenig bekannt sind die Schicksale von DDR-Flüchtlingen, die über die "nasse Grenze" wollten. Ein Forschungsprojekt der Uni Greifswald ändert das: Mehr als 900 gelang die Flucht. Viele bleiben bis heute "vermisst", sind wahrscheinlich ertrunken.
Mehr als 5.600 DDR-Bürgerinnen und Bürger versuchten die nasse Grenze - die innerdeutsche - zu überwinden. Auf dem Schlauchboot, der Luftmatratze, dem Surfbrett. 913 gelang die Flucht über die "Staatsgrenze Nord", wie sie offiziell hieß. Die anderen wurden von der "6. Grenzbrigade Küste" aufgegriffen, wenn sie nicht in den Fluten der Ostsee ertranken.
Über deren Schicksale ist wenig bekannt. Das versucht die Greifswalder Politikwissenschaftlerin Merete Peetz mit ihrer Forschung zu verändern. Sie steht vor einer alten Verkehrskarte der mecklenburgischen Küste:
"Wenn man genau guckt, ist es wirklich eine echte, alte DDR-Karte. Dieser kleine Zipfel Schleswig-Holstein, den wir da sehen: Da ist überhaupt keine Örtlichkeit eingezeichnet. Das heißt, für den normalen DDR-Bürger begann dort informationstechnisch das Nirgendwo."

Viele Leichen in Fischernetzen gefunden

Es ist Mittwochvormittag. Die 40-Jährige mit den Tattoos ist erst vor ein paar Tagen aus dem Sommerurlaub zurückgekommen: Zusammen mit ihrem Mann und den zwei Kindern war sie auf Usedom, der Sonneninsel. Relaxen, Schwimmen, ausnahmsweise nicht an Corona denken.
Die Auszeit hat ihr gut getan. Schließlich ist ihr im Juli 2019 initiiertes Forschungsprojekt "Todesfälle bei Fluchtversuchen über die Ostsee" nicht ohne. Mag sich der Titel auch akademisch und nüchtern anhören: Die Schicksale der Republikflüchtlinge gehen ihr nahe. Sie zeigt auf die alte DDR-Karte über ihrem Schreibtisch mit den Zettelchen:
"Die markieren die Fundorte der Wasserleichen. Die meisten wurden in Fischernetzen gefunden. Viele wurden angespült. Man darf auch nicht vergessen: Viele sind auch durch die Verwirbelung runtergezogen worden und wurden auch gar nicht mehr angespült. Wir haben sehr viele Vermisstenvorgänge. Bei einigen wissen wir definitiv, bei vielen können wir nur vermuten können, dass sie eine Flucht über die Ostsee vorgenommen haben, ohne dass dazu Leichen gefunden werden konnten."
Die knapp 600 Kilometer lange Ostseeküste des Arbeiter- und Bauernstaates war streng bewacht. Es gab 38 Bewachungstürme. Minen- und Räumschiffe haben zwischen Mecklenburger Bucht und Stettiner Haff patrouilliert. Die bereits erwähnte 6. Grenzbrigade mit tausenden Soldaten.

Die Forscherin ist Westberlinerin

Das Ausmaß der Überwachung hat Merete Peetz schon während ihres Studiums an der Greifswalder Universität überrascht. "Fortkommen aus der DDR: Republikflucht über die Ostsee", lautete der Titel ihrer Abschlussarbeit.
Wie sich das anfühlt, eingesperrt zu sein: Das kennt Peetz noch aus eigener Erfahrung. Nein, sie sei kein Ossi, meint sie lachend in ihrem Büro unterm Dach am Rande der Greifswalder Altstadt. Sondern: Berlinerin. Westberlinerin. Als die Mauer fiel, war sie acht Jahre alt. Und noch heute laufe ihr ein Schauer über den Rücken, wenn sie an die Autofahrten über die Transitstrecke zu ihrer Oma im Frankenland denke. An die stundenlangen Passkontrollen in "Drei Linden", die Unruhe, die ihre Eltern befiel – und damit auch sie.
Zwei Männer und zwei Frauen stehen vor einer Bank im Park. Sie schauen Merete Peetz in der Mitte an.
Das Forschungsteam der Uni Greifswald zu den DDR-Ostsee-Flüchtlingen: Jenny Linek, Henning Hochstein, Merete Peetz und Björn Ahlers.© Michael Frantzen/Deutschlandradio
Die Erinnerung daran hilft ihr bei ihren Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Manche melden sich bei ihr und den anderen aus dem Team, telefonisch oder über ihre Website. Manchmal helfen anderen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit Kontakten, manchmal Zufallsfunde in irgendwelchen Akten.

Es geht um das Andenken und die Würdigung

Zwei Sachen aber sind immer gleich: Das Licht der Öffentlichkeit sucht so gut wie keiner der Betroffenen. Deshalb gibt es auch keine Presse-Interviews. Und bei den Gesprächen, die Peetz führt, läuft kein Aufnahmegerät:
"Ich möchte ja, dass die Menschen sich öffnen. Dafür muss ich so viel Vertrauen wie möglich aufbauen. Da ist es für mich einfacher zu sagen: 'Warten se mal kurz, ich möchte mir das eben mal aufschreiben.' Es ist tatsächlich eher ein Gespräch. Einen fixen Gesprächsleitfaden haben wir nicht."

Nicht nur Berlin wurde von der innerdeutschen Grenze zerrissen. Auch das etwa 40 Einwohner zählende Dorf Mödlareuth an der thüringisch-bayerischen Grenze wurde vom "Eisernen Vorhang" buchstäblich durchteilt. Deshalb hatte Mödlareuth im Ausland auch den Spitznamen "Little Berlin". Noch heute ist ein Teil der Mödlareuther Mauer als Denkmal erhalten. Robert Lebegern leitet das deutsch-deutsche Museum Mödlareuth und erzählt im Gespräch von der einzigartigen Geschichte dieses kleinen Ortes [AUDIO] .

Schwarzaufnahme eines bayerischen Dorfes mit wenigen Häusern, unweit einer innerdeutschen Grenzanlage.
© Imago/Werner Schulze
Gespräche von Angesicht zu Angesicht und nicht virtuell: Vor Corona ganz normal. Die Politologin verzieht das Gesicht. Kein gutes Thema. Die Pandemie hat auch Peetz ausgebremst. Wenn überhaupt, konnte sie in den letzten anderthalb Jahren meist nur telefonisch mit Zeitzeugen und Zeuginnen reden. Die Stadtarchive oder das Kreisarchiv Nordwestmecklenburg in Grevesmühlen waren lange geschlossen. Dabei tickt die Uhr – viele ihrer Quellen sind über achtzig.
"Es geht um das Andenken und der Würdigung derjenigen Personen, die ums Leben gekommen sind, weil sie den absoluten Willen hatten, ihrem eigenen Lebensplan zu folgen. Es gibt mittlerweile Handbücher über die Todesopfer an der Berliner Mauer oder an der innerdeutschen Grenze. Aber die Todesopfer der Ostseeküste haben eben noch kein derartiges Buch."
"Es ist eine bedeutungsvolle Arbeit. Weil das Menschen sind, deren Schicksal im Verborgenen geblieben ist", ergänzt Peetz’ Mitstreiter, der Politikwissenschaftler Hennig Hochstein: "Teilweise sind das ja Geschichten, die nichtmal den Angehörigen bekannt sind. Die Leute wollten nicht unbedingt erzählen, was sie machen. Weil das dann als schwere Straftat – als Republikflucht – ausgelegt wurde. Auch alle Leute, die davon wussten, bekamen Probleme. Oft kam es vor, dass die Leute einfach weg waren."

Beerdigungen von denen keiner wissen durfte

Der Austausch zwischen Peetz und den anderen aus dem Projekt: Er ist gerade nicht ganz einfach. Nicht wegen irgendwelcher Unstimmigkeiten, sondern weil das Politologie-Institut, das mit seinen schall-isolierten, braunen Ledertüren noch DDR-Charme verströmt, renoviert wird. Sprich: Die Projekt-Leute sind gerade kreuz und quer über die Stadt verteilt.
Deshalb auch das Treffen draußen auf dem August-Bebel-Platz – zusammen mit der Historikerin Jenny Linek, der dritten im Bunde. Auch sie nimmt ihre Forschungsarbeit zuweilen ganz schön mit, etwa wie Beerdigungen und das Umfeld von Flüchtlingen überwacht wurden, "damit ja nichts nach außen dringt. Das in diesen Einzelheiten dann noch mal so nachzuspüren: Da muss man schon schlucken."
Jenny Linek spricht von den "Dimension der kafkaesken Paranoia" und meint damit, dass "die Stasi weiß, dass die Leute verstorben sind. Trotzdem werden noch von Gerichten hochoffizielle Haftbefehle gegen 14-Jährige wegen Angriff auf die Staatsgrenze aufgestellt."

Anfang der 1960er Jahre viele Fluchten aus Stralsund

Polizei- und Stasi-Akten, die DDR-Jahrgänge der Totenscheine, Unterlagen der "Zentralen Erfassungsstelle von DDR-Unrecht" im niedersächsischen Salzgitter, die bis 1992 existierte: Oft gleicht die Arbeit der Forschenden einer Detektivarbeit. So nennt sie jedenfalls Björn Ahlers, der im dritten Semester Politikwissenschaften studiert und als studentische Hilfskraft beim Projekt ist:
"Wir haben festgestellt, dass es aus Stralsund Anfang der Sechziger massive Fluchtbewegungen über die Ostsee gab. Aber wir wissen nicht warum. Jetzt gerade gehe ich beispielsweise die ganzen Akten des Bezirks Rostock durch, um zu scannen, ob es vielleicht einen Hinweis gibt, warum es genau Anfang der Sechziger so einen Push- oder Pull-Faktor für die Fluchtbewegung aus Stralsund gab."

Ergebnisse des Forschungsprojektes bis Oktober 2022

Es ist kurz nach zwei und Merete Peetz zurück an ihrem Schreibtisch. Nächste Woche hat sie in Berlin zu tun, im Landesarchiv, Akten wälzen. Eigentlich soll ihr Projekt spätestens Ende Oktober 2022 Ergebnisse liefern und ein biografisches Handbuch mit Kurz-Biografien der Geflüchteten erscheinen. So denkt sich das jedenfalls das Bundesministerium für Forschung und Bildung, einer der Fördergeldgeber.
Peetz zuckt mit den Schultern. Schwierig. Aber wird schon. Es muss. Ein-, zweimal war sie an der Ostsee, an den Stränden, wo die, die einfach nur rauswollten, mit dem Mut der Verzweiflung rübermachten oder es versuchten.

Halbinsel Priwall - die Grenze durch den Ostseestrand

Ortswechsel: die Halbinsel Priwall, die Lübecker Enklave an der Mecklenburger Bucht. Strahlender Sonnenschein. In den Sechzigerjahren, als Günter Wosnitza noch ein schlaksiger Teenager war, verlief quer durch den feinen Sandstrand die Zonengrenze. Links, sprich in der Bundesrepublik, saß Wosnitza, der Flüchtlingsjunge aus Schlesien, mit Mutter und Schwester in einer Notunterkunft. Rechts, keine zehn Meter entfernt, der Klassenfeind. Bis an die Zähne bewaffnet.
"Da vorne: Da fängt Mecklenburg an. Wenn sie jetzt von hier gucken: An dieser Stelle, zwischen diesen Bäumen, stand so ein winziges Häuschen. Da saß dann ein Zollbeamter drin. Das war Zonengrenze und es war Tag und Nacht jemand hier."
In den Sechzigerjahren trennte lediglich ein Zaun Ost und West, doch mit der Zeit rüsteten Ulbricht und Honecker auf und brachten mit Leuchtraketen und Scheinwerfer Wosnitza ein ums andere Mal um den Schlaf.
"Das war wie ein Geisterhaus. Das war alles frei hier. Und wenn im Winter, wenn es kalt ist, in der Nacht der Scheinwerfer reinknallt: Da ist es egal, ob sie eine Gardine haben, da ist die Bude knallhell. Wer das nicht kennt, kriegt Gänsehaut. Zack! Sie wissen ja nicht, was los ist."

Schreie im Nebel von DDR-Flüchtlingen

Schlimm waren nicht nur Scheinwerfer-Attacken von drüben, sondern auch das, was Wosnitza sonst noch miterlebte, an der Nahtstelle des Kalten Krieges. Der nasse Tod: Für den Gründungsvater der Grünen in der Hansestadt Lübeck ist das keine Aktennotiz, sondern eine Erinnerung, die ihn seit dem August 1965 nicht mehr loslässt.
"Das war ein sehr schöner Sommertag. Zum Abend hin ist Seenebel aufgekommen, der kommt dann ganz plötzlich und liegt dann wie eine Watteschicht über der See. Es war absolut ruhig. Und dann habe ich ganz leise immer Schreie gehört. Man konnte gar nichts sehen. Und die Frau hat nicht aufgehört. Fürchterlich. Ich höre sie heute noch, diese Schreie. Wir waren hilflos. Die große Frage ist: Was ist es? Es hat grauenhaft lange gedauert. Man hat gespürt, es ist fürchterlich."
Was Wosnitza damals noch nicht weiß: Er ist als 15-Jähriger Zeuge einer tragischen Flucht geworden. Irgendwann verstummen die Schreie und ein Nachbar zieht mit seinem Motorboot zwei völlig erschöpfte DDR-Flüchtlinge aus dem Wasser, eine Frau und ihren Enkel. Für ihren Mann kommt jede Hilfe zu spät. Einen Tag später ortet ein Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes seine Leiche im Wasser.

Horrorgeschichten, die man nicht vergessen kann

Der 71-Jährige schließt in seinem Wochenendhaus für ein paar Sekunden die Augen. Er kennt mehrere solcher Horrorgeschichten. Wie die vom angeschossenen, spanischen Touristen, der am Strand entlang joggte und dabei übersah, dass er aus Versehen die DDR-Grenze überquert hatte. Und die vom einheimischen Jugendlichen, der als Mutprobe rüber machte in die DDR – und per Hüftstreckschuss niedergestreckt wurde.
"Am Anfang hat er noch versucht, sich mit den Händen wegzuziehen. Aber nach fünf Metern konnte er sich nicht mehr bewegen. Der hat da Stunden gelegen. Nix mit Erster Hilfe, gar nix. Und das war hier im Sommer. Der Strand war voll. Zu hunderten sind die Leute hier an die Grenze gelaufen. Die waren alle wie gelähmt. Da kamen auch so Helfer vom Roten Kreuz. Aber: panische Angst. Die haben dann immer mit einem Fähnchen gewunken, sind aber nicht rübergegangen. Das war ganz übel. Den haben sie dann irgendwann nach Stunden abgeholt."
Ein halbes Jahr lag der Jugendliche in einem DDR-Krankenhaus, bevor er in die Bundesrepublik zurück konnte. Was aus ihm geworden ist: Günter Wosnitza schüttelt den Kopf, keine Ahnung. Ein paar Mal hat der Rentner schon mit Merete Peetz in Greifswald telefoniert und ihr seine Zeitzeugen-Geschichten erzählt.
Über den nassen Tod auf der Ostsee. Den Horror. "Ich hab das noch im Ohr. Die Schreie. Das vergessen sie nicht."
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