Timothy Garton Ash: "Redefreiheit"

Müssen wir im Internet dickfelliger werden?

Facebook-Symbole wie die Abkürzung 'f' und der gesenkte Daumen für "dislike" auf blauem Grund und darüber steht Hass gesprüht, wobei der Buchstabe 'a' in Hass aus dem At-Zeichen besteht.
Facebook steht besonders im Zentrum der Debatten um Hass-Kommentare im Netz: Aber auch an anderen Orten im Internet wird grenzwertig diskutiert. © Imago / Ralph Peters
Von Vera Linß · 30.09.2016
Wer Hasskommentare im Netz bekämpft, läuft schnell Gefahr, die Redefreiheit gleich mit zu beschränken. Der britische Historiker Timothy Garton Ash warnt in seinem Buch "Redefreiheit: Prinzipien für eine vernetzte Welt" vor zu vielen Verboten.
#NichtEgal – so heißt die jüngste Initiative von Youtube, die am Montag vergangener Woche startete. Bei der Aktion sollen Nutzer mit eigenen Kurzfilmen gegen Hassvideos auf der Plattform Position beziehen. Der Shitstorm ließ nicht auf sich warten.
"Youtube" wolle die Meinungsfreiheit beschneiden, hieß es, denn wer wisse schon, welche Aussagen nun tatsächlich unter "Hass" fielen und welche nicht?
Genau das ist das Problem: Wer versucht, den verbalen Dreck im Netz zu bekämpfen, läuft Gefahr, die Redefreiheit gleich mit zu beschränken. Was aber hilft gegen die Abgründe des Internets? Anfang 2012 hat der britische Historiker Timothy Garton Ash auf "freespeechdebate.com" genau darüber eine Onlinedebatte angestoßen.
Nach welchen Regeln man in einer komplett vernetzten Welt kommunizieren sollte, diskutieren Experten aus der ganzen Welt dort ebenso wie ganz praktische Fragen, etwa wo die Grenze verläuft zwischen legitimer Rede und Hass?

Was ist im Netz erlaubt - und was nicht?

Aus dieser Website ist Ashs jüngstes Mammutwerk hervorgegangen, ein fast 700-seitiges Plädoyer für "Rede- und Meinungsfreiheit im 21. Jahrhundert" – ein Standardwerk, wie der Verlag das Buch zu Recht preist. Denn Timothy Garton Ash liefert einen nützlichen Rahmen, um zu beurteilen, was im Netz erlaubt sein darf und was nicht.
Redefreiheit sei ein unverzichtbares Menschenrecht und solle deshalb so wenig wie möglich durch Regierungen oder von Privatkonzernen eingeschränkt werden, lautet seine zentrale These. Stattdessen sollten universelle Normen und Praktiken entstehen für den optimalen Gebrauch dieser Freiheit.
Da Inhalte heute über kulturelle und Ländergrenzen hinweg verbreitet würden, verlören nationale Gesetze zunehmend ihre Wirkung.
Als "Bedienungsanleitung" formuliert der Oxford-Professor zehn Grundprinzipien für die Kommunikation. Dazu zählt er den Verzicht auf Gewalt, den Respekt aller Gläubigen und die tabulose Verbreitung von Wissen durch Universitäten und Unternehmen.

Empfehlung: Dickfelliger werden

Detailliert beschreibt Garten Ash auch, mit welchen Mittel das erreicht werden soll. Unter dem Grundprinzip "Vielfalt" etwa thematisiert er das Phänomen "Hass". Dabei hält er nichts von Verboten, da kaum etwas dafür spreche, dass es dadurch weniger Rassismus oder andere Vorurteile gebe. Zudem hänge es immer vom Kontext ab, ob etwas beleidigend sei.
Ash empfiehlt stattdessen allen, eine "robuste Zivilität" an den Tag zu legen und meint damit schlicht dickfelliger zu werden, um Unterschiede auszuhalten.
Ein Rat, der sich durch sein gesamtes Buch zieht. Eingriffe hält er nur für richtig, wenn die Meinungsfreiheit geschützt bleibt. Anstößiges Material etwa dürfe man im Ausnahmefall im Internet mit dem Hinweis "einen Klick entfernt" präsentieren, damit jeder selbst per Mausklick entscheiden könne, ob er die Bilder sehen will oder nicht.
Timothy Garton Ash's umfassende Vorschläge sind darum so überzeugend, weil er immer das Für und Wider abwägt und immer auch unterschiedliche kulturelle Perspektiven in die Waagschale wirft, also nicht nur die westliche. Der Schlüssel sei Dialog, über alle Kulturen hinweg, so sein Fazit, die beste Zivilität ist die, die ohne Zwang entsteht.

Timothy Garton Ash: Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt
Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Thomas Pfeiffer
Hanser, München 2016
688 Seiten, 28 Euro

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