Thorsten Nagelschmidt über seinen Roman "Arbeit"

Das Feiern der Anderen

10:22 Minuten
Berlin-Kreuzberg 1999: Im Club SO36 feiern und tanzen Menschen.
Das S036 in Kreuzberg im Jahr 1999. Als Thomas Nagelschmidt kurz danach nach Berlin zog, hieß es: In Berlin arbeitet niemand, die feiern alle nur. Er wusste damals schon, dass das nicht stimmte. © picture alliance / Berlin Picture Gate / Wolfgang Brückner
Thorsten Nagelschmidt im Gespräch mit Andrea Gerk |
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Thorsten Nagelschmidts Roman "Arbeit" spielt in der Kulisse des Berliner Nachtlebens und erzählt von diesem aus der Perspektive derer, die das Party-Mekka erst möglich machen: Sanitäter, Taxifahrer, Drogendealer.
Drogendealer mit Zahnschmerzen, eine Rettungssanitäterin mit höheren Idealen, ein Taxifahrer, der eigentlich Musik machen will - die Figuren in Thomas Nagelschmidts Buch "Arbeit" sind unterwegs, wenn die meisten anderen Menschen schlafen.
In der zeitgenössischen Literatur und den Berlin-Romanen, die die Stadt als Feier-Mekka thematisierten, habe ihm diese Perspektive auf den Ausgehbetrieb gefehlt, sagt Nagelschmidt, der auch der Sänger und Gitarrist der Band Muff Potter ist.

Feier-Mythos Berlin

"Als ich Mitte der Nuller-Jahre nach Berlin gezogen bin, da hieß es immer: In Berlin arbeitet niemand, die feiern alle nur." Ihm sei damals schon aufgefallen, dass das nicht stimmen könne – und dass das auch viel aussage über die Person, die solche Aussagen treffe. "Damit die Berliner Feierkultur möglich ist, sind sehr viele Leute unterwegs, die das organisieren", sagt Nagelschmidt: "vom Drogendealer bis zur Polizistin".
Bei einem sozialrealistischen Buch wie seinem gehe es um Authentizität. Er habe bei der Recherche die Stadt noch einmal aus ganz neuer Perspektive erlebt. Nagelschmidt sei er auf einer Kehrmaschine der BSR mitgefahren, habe in einem Hostel gearbeitet, an Club-Türen gestanden – und mit vielen Sanitätern, Ärzten und Polizisten gesprochen. "Ich bin dann auch selbst ganz anders durch die Stadt gegangen."

Raus aus der Komfortzone

Er sei eigentlich gut mit den Leuten ins Gespräch gekommen, nach einer Aufwärmphase sei das Eis meist schnell gebrochen, sagt Nagelschmidt. "Ich musste ganz oft aus meiner Komfortzone raus." Ihm sei es sehr unangenehm, einfach Leute anzuquatschen. "Ich habe wirklich viel von manchen meiner Interview-Partner gewollt, habe sie immer wieder getroffen und habe wirklich viel genervt."
Der Autor, Musiker und Künstler Thorsten Nagelschmidt liest auf der LitCologne, dem internationalen Literaturfest. Er trägt Sakko und ein gemustertes Hemd. 
Thorsten Nagelschmidt auf der LitCologne 2019.© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
"Diese Leute habe ja auch alle was zu erzählen", betont der Autor. "Das sind ja durchweg interessante Berufe: Eine Sanitäterin, die in Kreuzberg fährt, die kennt die Stadt oder zumindest den Stadtteil wie niemand sonst, weil sie in alle Wohnungen rein kommt; in ganz verschiedene Milieus, die sonst verschlossen sind oder für die man sich vielleicht gar nicht so interessiert, sie kommt in die Clubs rein." Was eine Sanitäterin in nur einer Schicht erlebe, prädestiniere sie geradezu zu einer literarischen Figur.

Eigene Erzählstimmen

Nagelschmidt findet für seine Figuren immer eine eigene Erzählstimme. Dazu sagt er, er habe Vielfalt abbilden wollen: Alter, Herkunft, männlich/weiblich, in Ost- und in West-Berlin sozialisiert, zugezogen oder geflüchtet, ganz unterschiedliche Milieus. "Die brauchen natürlich alle ihren eigenen Duktus und Habitus."
Er habe sich für die "Camera Eye Technique" à la John Dos Passos entschieden. "Man ist immer ganz nah an der Figur dran, auch wenn es kein Ich-Erzähler ist. Man sieht, hört, schmeckt, riecht nur das, was die jeweilige Figur eben sieht, schmeckt, hört und riecht".
Die Figuren hätten dann auch alle eine eigene Art zu sprechen, und eine eigene Art zu denken. "Das ist das, was am längsten dauert beim Schreiben, aber auch das, was mir am meisten Spaß macht."
(mfu)

Thorsten Nagelschmidt: "Arbeit"
S. Fischer, Frankfurt am Main 2020
336 Seiten, 22 Euro

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