BBC-Radioreden
"Deutsche Hörer!" Mit diesen Worten leitete Thomas Mann seine Radioreden während des Zweiten Weltkriegs ein. © picture alliance / Fred Stein / Fred Stein
Als Thomas Mann Nazideutschland ins Gewissen sprach

Während des Zweiten Weltkriegs wandte sich Thomas Mann mit 59 Radioansprachen an die „Deutschen Hörer“. Seine Appelle und seine Hoffnung auf eine Selbstbefreiung vom NS-Regime erfüllten sich nicht. Dennoch bleiben die Reden bis heute relevant.
Thomas Mann hatte es den Deutschen ja gesagt, aber sie hatten nicht hören wollen. Jahrelang hatte er in mehreren Vorträgen versucht, ihnen beizubringen, ihre Republik und die Demokratie zu lieben, doch es hatte nichts genützt: Auch wenn die Mehrheit nicht Hitler wählte, ließen die Deutschen ihn an die Macht. Und sechs Jahre später brachte dieser den Krieg über die Welt. Thomas Mann lebte längst im Exil.
Als die BBC sich im Herbst 1940 an den Schriftsteller wandte, erneut zum deutschen Volk zu sprechen, in kurzen Texten, die übers Radio verlesen werden sollten, wollte er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen – trotz schlechter Erfahrungen.
Es sei verlockend gewesen, „einmal wieder in dem Bewusstsein Deutsch zu schreiben, dass das Geschriebene in seiner angeborenen Gestalt, auf Deutsch werde wirken dürfen“, heißt es im Vorwort zur ersten Ausgabe seiner Kriegsreden.
Der Autor sollte Ereignisse kommentieren und seine Hörer davon zu überzeugen, dass Deutschland den Krieg verlieren werde. So wurde Thomas Mann ein Mitkämpfer der britischen Propaganda als Teil der psychologischen Kriegsführung.
Mit dem weltberühmten Schriftsteller, der 1929 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, versprach sich die BBC, besonders großen Einfluss auf die deutsche Bevölkerung nehmen zu können. Auch an seiner Glaubwürdigkeit als Gegner des Hitler-Regimes bestand kein Zweifel. Er war selbst dessen Opfer geworden, hatte den größten Teil seines Vermögens, seine deutsche Leserschaft und die Möglichkeit zur Veröffentlichung seiner Bücher verloren.
Politischer Aktivist wider Willen
Von Oktober 1940 bis November 1945 sendete die BBC über ihren Deutschen Dienst 59 Reden von Thomas Mann nach Deutschland. Die Botschaften dauerten zunächst fünf, später bis zu acht Minuten. Es waren mahnende Appelle, mit denen der Dichter versuchte, seinen Landsleuten die Monstrosität der Nationalsozialisten vor Augen zu führen und sie dazu zu bewegen, den Krieg zu beenden.
Er selbst sah in den Reden vor allem einen „moralischen Gewissensdienst“, zu dem er sich verpflichtet fühlte. Er war überzeugt davon, dass es einem Schriftsteller seines Ranges nicht gestattet sei, die Politik von der Kunst zu trennen oder die Beschäftigung mit ihr zu verweigern.
Vom Reaktionär zum Republikaner?
Doch das war nicht immer so. 1914, als der Erste Weltkrieg ausbrach, klang er noch anders. Thomas Mann schrieb ein flammendes Bekenntnis zum Krieg, in dem er die Deutschen das „wichtigste Volk Europas“ nannte, das sich gegen den "wesensfremden" Westen wehrte.
Als er damit Irritationen auslöste, verfasste er – während der Krieg andauerte – eine 600-seitige Rechtfertigungsschrift: "Betrachtungen eines Unpolitischen", ein eher anti-demokratisches, ja geradezu chauvinistisches Buch – zumindest wurde es lange so verstanden, auch von Zeitgenossen.
Ein Missverständnis, so Thomas Mann: „Ich begreife sehr gut, daß man dieses Buch mißverstehen muß“, bekannte er. „Selbst engste Freunde sagten mir, sie fänden es nationalistisch. Aber ich hatte einen ganz anderen Sinn gewollt.“
Thomas Mann blieb auch nach dem Krieg politisch ambivalent, doch im Laufe weniger Jahre entwickelte er sich eindeutig zum Republikaner. Die Ermordung des jüdischen Reichsaußenministers Walther Rathenau am 24. Juni 1922 durch Rechtsterroristen war für den Autor ein schwerer Schock.
Im Oktober 1922 hielt er mit seiner Berliner Rede "Von Deutscher Republik" ein leidenschaftliches Plädoyer für die Demokratie und versuchte, vor allem die jungen Zuhörer für die so ungeliebte neue Staatsform zu begeistern. Für ihn seien Patriotismus und Republik keine Widersprüche, Freiheit sei kein Spaß und Vergnügen, mahnt er, sie sei Verantwortlichkeit.
Auch wenn er ausdrücklich nichts von seinen "Betrachtungen" widerruft und sich einen Konservativen nennt, ist nun sein Bekenntnis eindeutig: Statt nationalem Chauvinismus predigt er Universalismus. Den vielgescholtenen Reichspräsidenten nennt er vertraulich „Vater Ebert“ und er schließt mit den Worten: „Es lebe die Republik!“
Acht Jahre später, nachdem die NSDAP bei den Reichstagswahlen im September 1930 zur zweitstärksten politischen Kraft aufsteigt, rechnet Thomas Mann mit dem Hitlerismus ab und warnt vor den Gefahren. Doch alle Mühen erwiesen sich als vergeblich: Im Januar 1933 siegte zunächst die Unvernunft im Zeichen des Hakenkreuzes.
Im März 1933 kehrte Thomas Mann von einer Reise in die Schweiz nicht mehr nach Deutschland zurück. Im Dezember 1936 wurde ihm offiziell die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen, im September 1938 blieb er nach einer Vortragstour in den USA, wo er und seine Frau Katia 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielten.
Die Anfrage der BBC bot Thomas Mann Gelegenheit, mit seinem deutschen Publikum, das im Krieg keinen Zugang mehr zu seinen Büchern hatte, auch über eine große räumliche Distanz verbunden zu bleiben – zumindest mit denjenigen, die sich von dem Verbot, den „Feindsender“ BBC einzuschalten, nicht einschüchtern ließen. Die dafür von den Nazis drohenden Strafen reichten von mehrjähriger Haft bis zur Hinrichtung.
Von der Schallplatte übers Telefon ins Radio
Im Oktober 1940 erfolgte die erste Ausstrahlung. Sie begann, wie jede Ansprache, mit den Worten „Deutsche Hörer!“ Zunächst schickte Thomas Mann seine Manuskripte noch nach London, wo sie von einem deutschsprachigen Mitarbeiter der BBC vorgelesen wurden. Ab März 1941 – Thomas Mann lebte bereits in Kalifornien – trat er selbst ans Mikrofon. Er hatte den Schritt bei der BBC selbst durchgesetzt, damit seine Worte stärker wirkten.
Er sprach seine jeweilige Botschaft in einem Aufnahmestudio der National Broadcasting Company (NBC) in Los Angeles auf eine Platte, die dann per Luftpost nach New York geschickt wurde. Dort wurde ihr Inhalt durch das Telefon auf eine andere Platte in London übertragen, die für die Sendung nach Deutschland vor dem Mikrofon ablief. So konnten die Deutschen, die es wagten, die BBC einzuschalten, Thomas Manns eigene Stimme hören.
In seinen Ansprachen benennt der Autor die Verbrechen der Nazis, er klärt über Gräuel auf, etwa die 400 holländischen Juden, die als Versuchsobjekte mit Giftgas ermordet worden waren.
Er stellt Propagandalügen richtig und er beschimpft Hitler und seine Spießgesellen aufs Wüsteste, wie man es dem sonst sehr steifen und staatstragenden Großschriftsteller nicht zugetraut hätte.
Er nennt den Diktator eine „blutige Nichtigkeit von einem Menschen“, einen „mörderischen Narren und Schmierenschauspieler“, einen „widrigen Irrwisch“. Er bescheinigt dem „Führer“ einen „intellektuellen und moralischen Minderwert“. Dieser sei eine „lichtlose Lügenseele“, ein „Verhunzer des Wortes, des Denkens und aller menschlichen Dinge“ ein „schimpflich verunglücktes Individuum“.
Mit den Reden versucht er aber auch, die Ehre der Mehrheit seines Volkes zu retten: Für Thomas Mann ist das nationalsozialistische Deutschland nicht identisch mit dem Deutschland, das für christlich-abendländische Werte steht und dem er sich selbst zugehörig fühlt.
An den Verbrechen, die in Deutschlands Namen verübt würden, seien allein die nationalsozialistischen Führer schuld. In den Augen der Welt jedoch, würden diese Verbrechen auch auf den Teil der "guten" Deutschen abfärben. Von den Völkern, die unter dem Expansions- und Vernichtungsdrang der Deutschen zu leiden haben, sei keine Differenzierung zu erwarten.
Thomas Manns Botschaft ist klar: Nur durch einen Akt der Selbstbefreiung könne es den Deutschen gelingen, wieder in die Gemeinschaft der friedlichen, in Freiheit lebenden Völker aufgenommen zu werden. „Deutsche, rettet euch!“, mahnt er zu Weihnachten 1940. Er spricht sich gegen eine Zwangserziehung des deutschen Volkes nach dem Zusammenbruch des Hitlertums aus. „Jede Umbildung (…) ist Sache des deutschen Volkes selbst, muss seine Sache allein sein.“
Es kam später anders. Und auch bei der versprochenen gründlichen „Reinigung und Befreiung“ wird Thomas Mann sich nicht als Prophet erweisen.
Deutsche Schuld am Holocaust
Im Mai 1944 bat Thomas Mann die BBC um eine Sendepause. Er wisse einfach nicht mehr, was er den Deutschen noch sagen solle. Bei der BBC zeigte man Verständnis für seine Frustration und setzte die „Deutsche Hörer!“-Sendungen aus.
Dann aber drängte die BBC ihn jedoch, die Radioreden wieder aufzunehmen, was Thomas Mann im Januar 1945 tat. Er richtete sie nun gezielt an die deutsche Bevölkerung in den von den Alliierten besetzten Gebieten.
Als im Mai 1945 die Kapitulation Deutschlands erfolgt war, forderte Thomas Mann seine Landsleute auf, den Sieg als Leistung der Alliierten anzuerkennen und ihn als Stunde der Rückkehr zur Menschlichkeit zu betrachten. Er plädierte für einen Neubeginn Deutschlands in friedlicher Kooperation mit anderen Völkern.
Neben diesen versöhnlichen Tönen gab es jedoch auch andere: Thomas Mann brachte auch noch einmal seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass die Selbstbefreiung ausgeblieben sei. Er schonte seine Hörer nicht und berichtete ihnen vom Grauen der Konzentrationslager, von Auschwitz und Majdanek.
Damit konfrontierte er die Deutschen mit einem Thema, das viele zum damaligen Zeitpunkt lieber nicht gehört hätten: mit der Frage nach kollektiver Schuld und Verantwortung. Zu groß sei das Verbrechen, als dass das deutsche Volk von einer Mitschuld ausgenommen werden könne.
Diese Appelle empfanden viele deutsche Hörer der Sendungen als Provokation und wiesen sie entsprechend scharf zurück. "Diese Idee vom feinen Herrn Mann, der vom Logenplatz des Exils aus den Deutschen in den Rücken fällt mit seinen Radioreden, das hat man ihm nie wirklich verziehen", sagt der Literaturwissenschaftler Kai Sina, "und ihm infolgedessen immer wieder auch – und das gilt auch für die Forschung – im Grunde seine politische Satisfaktionsfähigkeit in Abrede gestellt."
Nach dem Krieg rechtfertigt Thomas Mann sich in seiner letzten Rede, warum er nicht nach Deutschland zurückkehrt. Das Land sei zerrissen in Besatzungszonen und es sei besser, sich von außen für die Europahilfe einzusetzen, damit Kinder nicht hungern müssen, statt „Milderungsagitation“ zu betreiben, die dem deutschen Nationalismus dienen könnte. Er sei kein Nationalist. „Man gönne mir mein Weltdeutschtum“.
leg