Thomas Hettche über seinen Roman "Herzfaden"

Die Magie der Marionetten

29:52 Minuten
Die Marionette Urmel schlüpft aus einem Ei. Aufgenommen am 13.11.2014 in der Ausstellung zur Augsburger Puppenkiste im Puppentheater in Magdeburg (Sachsen-Anhalt).
Urmel, ein Star der Augsburger Puppenkiste. In "Herzfaden" erzählt Thomas Hettche die Geschichte des Marionettentheaters. © picture alliance / dpa-Zentralbild / Jens Wolf
Moderation: Dorothea Westphal |
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Generationen sind mit der Augsburger Puppenkiste aufgewachsen. Thomas Hettches Roman "Herzfaden" handelt von den Anfängen des Marionettentheaters. Uns hat er erzählt, warum er darin die wahren Ereignisse um eine märchenhafte Geschichte ergänzt hat.
Im Februar 1948 wurde die Augsburger Puppenkiste eröffnet. Fünf Jahre zuvor, mitten im Krieg, hatte es bereits einen Vorläufer gegeben. Thomas Hettche, der sich in seinem letzten Roman der Pfaueninsel gewidmet hatte, verknüpft in "Herzfaden" die Geschichte des Puppentheaters mit der Geschichte von Hannelore Oehmichen, Hatü genannt, der Tochter des Gründers der Augsburger Puppenkiste. Außerdem gibt es noch ein 12-jähriges Mädchen, das auf einen geheimnisvollen Dachboden gerät und dort nicht nur Hatü, sondern auch ganz vielen Figuren der Augsburger Puppenkiste begegnet.
Der Roman mit dem Titel "Herzfaden" steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, der am Montag im Rahmen der diesmal vor allem digital stattfindenden Frankfurter Buchmesse vergeben wird.

Die Illusion entsteht im Kopf

Generationen sind mit der Augsburger Puppenkiste aufgewachsen, Thomas Hettche ebenso, wie er erklärt. Der Roman sei auch eine Rückkehr in die Kindheit.
"Das Faszinierende war", erzählt er, "und das habe ich als Kind gar nicht verstanden, dass man sah, dass das alles künstlich war. Man sah die Fäden der Marionetten. Man sah, dass diese Marionetten Holzgesichter haben, die keine Mimik haben. Und man sah natürlich, dass das Meer beim Urmel eine blaue Plastikfolie war. Und gleichzeitig hat man aber alles geglaubt und war von der Geschichte fasziniert. Und dieser Effekt, dass die Illusion im Kopf entsteht, das hat mich als Kind irritiert."
Schriftsteller Thomas Hettche
Der Schriftsteller Thomas Hettche hat die Entstehung der Augsburger Puppenkiste aus der Erfahrung des Faschismus einen märchenhaften Roman geschrieben. © privat
Der Titel des Romans "Herzfaden" wird im Roman mehrfach erwähnt. Walter Oehmichen, der Gründer der Augsburger Puppenkiste, sagt an einer Stelle, der Herzfaden sei der wichtigste Faden einer Marionette, denn "er macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht." So gesehen ist der wichtigste Faden ein imaginärer Faden, der dafür sorge, dass man bereit sei, die Künstlichkeit der Marionetten zu sehen und sie zugleich für lebendig zu nehmen.
"Der Funke der Fantasie, der da überspringt", sagt Autor Hettche, "das ist der Herzfaden". Wir als Zuschauer oder bei einem Roman als Leser sind also dafür verantwortlich, das, was wir lesen oder sehen, so zu ergänzen, dass es zu einer Illusion wird.

Das Geheimnis: Schwerpunkt und Schwerkraft

In Hettches Roman finden sich immer wieder Gedanken, die an Kleists Aufsatz "Über das Marionettentheater" erinnern. Darin erzählt ein Tänzer, was er von den Marionetten lernen könne und welche wichtige Rolle der Schwerpunkt dabei spiele – der Punkt im Innern der Figur, der die Bewegungen der anderen Glieder regiere, die wie Pendel folgen.
Thomas Hettche, der bei seinen Recherchen auch mal das Spielkreuz einer Puppe, an dem die Fäden festgemacht sind, in der Hand hielt, beschreibt diese Erfahrung als etwas Magisches: "Auch, wenn man keine Ahnung davon hat, reicht eine Bewegung und dieses kleine Holzwesen auf dem Boden bewegt sich plötzlich wie ein lebendiges Wesen. Und das liegt an dieser schönen Mechanik, die mit Schwerkraft und Pendelbewegung sofort Natürlichkeit erzeugt."
Der zweite wichtige Aspekt sei die Schwerkraft: "In meinem Roman heißt es", erläutert Hettche, "während wir Menschen uns gegen die Schwerkraft wehren müssen, um auf dem Boden zu stehen, nutzen Marionetten den Boden nur wie Elfen, die ihn kurz berühren." Die Kunst sei, die kleinen Füße auf der Erde zu lassen, damit es aussehe, als würde die Marionette darauf stehen.

Das Tor zur Märchenwelt

"Jeder Roman ist ein Marionettenspiel" heißt es in der Nachbemerkung des Romans. Für Hettche galt es, vor allem die Fäden von zwei Geschichten, die im Wechsel erzählt werden, in der Hand zu halten: den informativen blauen und den poetischen roten Faden. Auch im Druckbild sind diese beiden Teile farblich unterschieden. Während der blau gedruckte Teil an realen Personen orientiert und im Präsens erzählt ist, wird der rote märchenhafte und fantastische Teil in der Vergangenheit erzählt. Warum hat sich Hettche für diese Erzählweise entschieden?
"Also zum einen war der Gedanke, das könnte ein Buch für meine kleine Tochter sein. Und da schien mir eine Märchenebene eine gute Idee. Und zum Zweiten: Wir haben von der Magie der Augsburger Puppenkiste gesprochen. Und das nur historisch zu erzählen, das wäre mir zu weit entfernt gewesen. Ich fand das dann ein großes Vergnügen, zu versuchen, diese Magie selbst lebendig werden zu lassen, indem die Marionetten selber eine Rolle spielen."
In diesem roten Teil gerät ein 12-jähriges Mädchen, nachdem es mit seinem Vater eine Vorstellung der Augsburger Puppenkiste gesehen hat, durch eine Holztür im Foyer des Theaters auf einen geheimnisvollen Dachboden. Hier begegnet sie Prinzessin Li Si, dem Urmel, Lukas dem Lokomotivführer und vielen anderen Figuren.
Das sei ein Standardmotiv, sagt Hettche, dass man durch eine Tür oder etwas Anderes von der realen in eine Traum- oder Märchenwelt gerate. Auf dem Dachboden wird noch jemand zum Leben erweckt: Hannelore Oehmichen, genannt Hatü, die die meisten der Figuren geschnitzt und das Theater 1972 von ihrem Vater übernommen hat. 2003 ist sie gestorben, seitdem leitet ihr Sohn die Augsburger Puppenkiste.

Eine Hommage an Hatü

Der Roman sei auch eine Hommage an sie, sagt Hettche: "Mich hat diese Generation der Menschen interessiert, die im Faschismus groß geworden sind." Für diese Menschen sei das Ende des Faschismus mit einer großen Enttäuschung verbunden gewesen:
"Natürlich waren sie als Kinder nicht schuldig, aber sie haben ihre ganze kindliche Begeisterung in etwas investiert, von dem sie 1945 schlagartig begreifen mussten, dass es das Böse selbst war. Und ich glaube, dass das für diese Generation sehr prägend war."
Und dann gebe es den großen Kontrast zu den Stücken, die die Augsburger Puppenkiste gespielt hat, Märchen vor allem, aber sie hätten auch relativ bald moderne Sachen adaptiert:
"Sie haben 1951 den kleinen Prinzen aufgeführt. Und da war das Buch erst ein Jahr vorher auf Deutsch erschienen. Und das schien mir interessant zu sein, dass da eine junge Generation auch etwas Neues versucht hat."
Ähnlich war es dann zehn Jahre später mit Jim Knopf, der auch für das Fernsehen adaptiert wurde.
Die Augsburger Puppenkiste war und ist ein echtes Familienunternehmen. Man erfährt, dass die Urform, genannt der Puppenschrein, mitten im Zweiten Weltkrieg entstand und in einer Bombennacht in Flammen aufging. Diese Erfahrung sei verantwortlich dafür gewesen, dass bei der Neugründung eine Bühne entstand, die mobil war, auch wenn das Theater dann seinen Sitz im ehemaligen Heilig-Geist-Spital in Augsburg bekam.

Die Herzen der Jugend erreichen

Die Geschichte der Augsburger Puppenkiste ist auch eine Mentalitätsgeschichte der deutschen Nachkriegszeit, denn Walter Oehmichen wollte die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben worden waren. Eine Art Volkserziehung hatte er aber nicht im Sinn, meint Hettche, eher die Vorstellung, die traumatischen Erfahrungen des Krieges durch eine Illusionswelt zu kurieren.
Mit Marionetten schien das besser zu gehen als mit Schauspielern, denn Marionetten seien nicht eitel, wie Oehmichen an einer Stelle sagt. Und auch die Schauspieler, die die Puppen führen, verschwinden im Dunkeln auf der Spielbrücke.
Was für ein Enthusiasmus bei diesem Unternehmen dazu gehörte, erzählt Hettche auch. Das Erfolgsgeheimnis sei in der Tatsache zu suchen, dass die Augsburger Puppenkiste ein Familienunternehmen geblieben sei, vor allem aber in der Tatsache, dass sie sich modernen Stoffen zugewandt und dem Fernsehen geöffnet hat:
"Man muss sich vorstellen, die zweite Sendung, die in Deutschland über den Äther ging, war die Augsburger Puppenkiste … und sie haben dann mit dem Hessischen Rundfunk den entscheidenden Schritt getan, dass sie dann Formate entwickelt haben, die fernsehgerecht waren. Was wir kennen, sind ja nicht die Stücke, die in Augsburg gespielt werden, sondern wir kennen für das Fernsehen entwickelte Stücke."

Für Kinder heute nicht mehr attraktiv

Noch immer ist das Theater quicklebendig, mit hoher Auslastung bis zu 95 Prozent, jedenfalls vor Corona. Aber ist es für die junge Handygeneration noch attraktiv?
"Nein", sagt Hettche, "das ist sie, glaube ich, nicht. Ich glaube tatsächlich, dass sich das ein bisschen verliert, einfach natürlich wegen der Konkurrenz … Die Opulenz und die Perfektion, die wir jetzt im Kinderfilm haben, die gab es früher nicht. Insofern ist das nicht mehr so populär, wie es mal war."

Und welche Leserinnen und Leser wünscht er sich für diesen mit märchenhaften und fantastischen Elementen spielenden Roman?
"Mir geht es so wie meiner Heldin. Ich habe beim Schreiben irgendwann nicht mehr darüber nachgedacht, ob es ein Buch für Jugendliche oder Erwachsene ist, und ich glaube zunehmend, dass wir diese Unterscheidung gar nicht brauchen. Ich glaube, dass märchenhafte Stoffe für alle sein können. Ich würde mir wünschen, dass es von Jugendlichen gelesen wird. Auf jeden Fall von Erwachsenen."

(dw)

Thomas Hettche: "Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste"
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020
288 Seiten, 24 Euro

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