Therapie für russischsprachige Juden

Diagnose: "Einsamkeit"

11:06 Minuten
Ein alter Telefonhörer hängt an der Strippe auf grauem Hintergrund.
Die Mitarbeiter des Vertrauenstelefons hören bei russischsprachigen Migranten immer wieder von religiösen und kulturellen Zweifeln an der eigenen Identität. © unsplash / Alexander Andrews
Von Jens Rosbach · 19.07.2019
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In den 90er-Jahren kamen viele Juden aus Ländern der Ex-Sowjetunion nach Deutschland. Gerade für ältere Menschen war es nicht leicht, in Deutschland neu anzufangen. Viele leiden bis heute unter psychischen Problemen.
In Berlin-Charlottenburg, im sechsten Stock eines tristen Plattenbaus, wohnt eine betagte ukrainische Jüdin. Sie heißt Anna, ist 82 Jahre alt und trägt ein rot-weiß gestreiftes Shirt. Die kleine, gehbehinderte Frau setzt sich auf ihre Wohnzimmercouch und schaltet den Fernseher, der ein russisches Programm zeigt, aus. Die Zuwanderin möchte zwar ihren Nachnamen nicht nennen, aber von ihren Sorgen berichten - ihrer seelischen Not. "Mein Doktor, Psychiater - er hat aufgeschrieben diese Diagnose, er hat aufgeschrieben dieses Wort: Einsamkeit. Und diese Einsamkeit quält mich!"

Machtlos gegen Schwermut

Anna kam 1992, zusammen mit ihrem Mann, aus der Schwarzmeer-Stadt Odessa nach Brandenburg. Mit dutzenden weiteren Kontingentflüchtlingen wurden die beiden vorübergehend in einer ehemaligen Kaserne untergebracht. Sie konnten kein Deutsch, fanden keinen Arbeitsplatz und bald schon bekam der Ehemann Krebs - sieben Jahre und elf Operationen später verstarb er. Für Anna ist die Zeit in Deutschland immer hart gewesen. Bis heute fehlen ihr Freunde. "Ich habe einen Depressivzustand. Ich weine, ich habe keine Kraft, ich möchte nicht überleben. So oft im Krankenhaus und so oft in der Tagesklinik! Ich habe Angst, ich kann nicht alleine leben, das ist sehr schwierig."
Anna lebt von der sogenannten Grundsicherung im Alter, das sind 416 Euro im Monat plus 17 Prozent Zuschlag für ihre Gehbehinderung und Wohngeld. Eine Urlaubsreise auf der Donau, von der sie immer träumt, wird sie sich nie leisten können. Dennoch betont die Rentnerin, sie sei dankbar, dass sie nach Deutschland kommen durfte. Ihr helfe ein Pflegedienst und auch der Sozialdienst der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Aber gegen diese Schwermut sei sie einfach machtlos. "Das sitzt in meinem Kopf", sagt sie.

Hotline für Zuwanderer in Not

Sprachprobleme, Integrationsprobleme, Finanzprobleme. Die Synagogen-Gemeinde Köln betreibt, zusammen mit der Düsseldorfer Gemeinde, eine spezielle Hotline für jüdische Zuwanderer in Not – ein russischsprachiges Vertrauenstelefon. Projekt-Chefin Stella Shcherbatova berichtet, dass das Telefon 150 bis 200 Mal im Jahr klingelt.
"Jemand ruft uns an und sagt: Hallo, ich möchte gern wissen, ob Sie Informationen haben, wo kann ich russischsprachige Psychologen zum Beispiel finden. Oder wir kann ich eine russische Zeitung abonnieren? Aber sehr oft im Hintergrund bei den meisten Informationsanrufen ist Einsamkeit: Ja, ich bin allein, ich habe keine Kinder, ich kann mit niemandem ein einziges Wort sprechen!"
Shcherbatova, selbst russischsprachige Migrantin und Psychologin, weiß: Die Masse der Zuwanderer ist über 60 Jahre alt und hat auch deshalb Schwierigkeiten, neue Freunde zu finden. Viele sind nicht nur mit Alltagssorgen beschäftigt, sondern auch mit tief sitzenden Identitätsfragen. Denn in der Sowjetunion wurde alles Jüdische unterdrückt: Wollten Juden studieren, dann durften sie das nur in bestimmten Städten. Wollten sie einen Chefposten haben, wurden ihnen Steine in den Weg gelegt. Und gingen sie in die Synagoge, wurden sie observiert. So sind ihnen - bis heute - viele jüdische Feiertage, Gebete und Rituale fremdgeblieben, wie bei der freitäglichen Schabbatfeier.

Zweifel an der eigenen Identität

Die Mitarbeiter des Vertrauenstelefons hören deshalb immer wieder von religiösen und kulturellen Zweifeln an der eigenen Identität. "Ich habe sehr oft gehört: Ich war in der Sowjetunion als Jude verfolgt. Ich konnte meine Karriere deswegen nicht machen - und ich war nie ein Russe da für die Menschen, die in der Sowjetunion gewohnt haben. Und ich komme nach Deutschland, komme in die jüdische Gemeinde, sage ich bin ein Jude – und mir sagt die jüdische Gemeinde – und die deutsche Gesellschaft auch -, dass ich bin kein Jude, ich bin ein Russe. Und da verstehen Sie, welche Kränkung kommt dann."
"Juden mit Migrationshintergrund – sie wissen nicht, wo sie zu Hause sind. Ich stelle manchmal eine provokative Frage bei meinen Patienten: Wenn zum Beispiel eine deutsche Mannschaft und eine russische Mannschaft Fußball spielen, für welche Mannschaft sind Sie? Die absolute Mehrheit meiner Patienten findet überhaupt keine Antwort."
Valentin Agadzanov arbeitet in Düsseldorf als Psychiater und Therapeut. Der Arzt beobachtet ebenfalls, dass viele Probleme jüdischer Migranten in tiefste Sowjetzeiten zurückreichen. Agadzanov, der ebenfalls jüdisch ist und aus Moskau stammt, berichtet etwa von einem 80-jährigen Patienten. Dieser werde bis heute von Ängsten und Albträumen verfolgt, die noch aus seiner Gulag-Haft stammen. "Er hat immer Angst, dass er zu wenig Essen hat. Er hat zwei Kühlschränke zu Hause und die sind beide voll. Also wenn es ein bisschen zu wenig Essen im Kühlschrank gibt, dann kriegt er Angst, dass er zu wenig Lebensmittel kriegt. Sogenannter Verarmungswahn! Und schwere, sehr sehr schwere depressive Störung. "

Migranten geben Problem weiter – an nächste Generation

Beim Kölner Vertrauenstelefon, das bereits 2001 eingerichtet wurde, stellen die ehrenamtlichen Mitarbeiter fest, dass die jüdischen Migranten ihre seelischen Probleme oftmals an ihre Kinder weitergeben. Stella Shcherbatova berichtet: "Und da kommen dann so verschiedene Suchtprobleme: Drogenprobleme, Alkoholprobleme oder kriminelle Probleme. Weil: Wenn die Eltern eine gebrochene Identität haben, was könnten sie dann an die Kinder weitervermitteln?"
Gleichzeitig üben Großeltern und Eltern einen Druck auf die Kinder und Enkel aus. Das berichtet der Psychiater und Therapeut Alexander Bakalejnik, ein jüdischer Arzt aus der Ukraine, der heute in einer nordrhein-westfälischen Klinik arbeitet. Bakalejnik: "Gerade diese ältere Personengruppe, die eine Sprachbarriere hat und nicht so gut integriert ist, die klammert natürlich an ihre jüngere Generation, an ihre Kinder. Und möchte, dass ihre Kinder auch Dolmetscherfunktion ausüben, dass die Kinder sie überall begleiten. Und somit sind auch die älteren Leute sehr eifersüchtig, wenn die Kinder sich auch um ihre eigenen familiären oder Partnerschaftsbelange kümmern. Das wird als eine Art Verrat eingestuft."

Leben in der Vergangenheit

Die Folge: eine Überlastung der erwachsenen Kinder, ein Burnout der zweiten Einwanderer-Generation, Spannungen in den Familien. Hinzu kommt Streit mit den Enkeln, die hier geboren wurden, fast nur Deutsch sprechen und beruflich durchstarten. Die Therapeuten bemerken, dass sich viele russisch-jüdische Senioren enttäuscht zurückziehen, in eine innere Emigration. "Manche leben in der Vergangenheit oder leben in einer künstlichen Welt. Wenn sie noch mehrere Stunden russischsprachiges Fernsehprogramm zu Hause laufen haben, auch in russischen Geschäften einkaufen, dann sind sie quasi in ihrer Vergangenheit eingeschlossen."
Da viele Zuwanderer isoliert leben, entwickeln sie in besonderer Weise Ängste gegenüber allem Neuen und Fremden, erklärt Psychiater Valentin Agadzanov. "Die haben besondere Ängste auch vor Leuten von anderen Kulturen, von anderen Religionen, die sehen diese Ströme von Flüchtlingen – und die fühlen sich natürlich unsicher."

Angst vor Muslimen

Alexej Heistver: "Diese Gefahr kommt besonders heute von anderen Migranten, die hierher massenhaft gekommen sind." So formuliert es etwa Alexej Heistver, ein 78-jähriger Kontingentflüchtling aus Wismar. Heistver vertritt eine typische Meinung der jüdischen Zuwanderer. "Die muslimische Migranten haben einen riesigen Antisemitismus gegenüber uns, den Juden. Das ist die größte Gefahr für uns."
Die Verfolgung in der Sowjetunion, Integrationsprobleme und Generationenkonflikte - die russisch-jüdischen Patienten stehen Schlange bei Psychotherapeuten, die aus ihrem Kulturkreis stammen. Doch es gibt nur sehr wenige solcher Fachleute, die auch im übertragenen Sinne, ihre Sprache sprechen. Alexander Bakalejnik resümiert: "Die russischsprachigen Psychiater und Psychologen – die sind restlos überfordert!"
Auch das jüdische Vertrauenstelefon aus Köln und Düsseldorf sieht Bedarf für mehr psychosoziale Hilfe. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter würden gern auch Büros in Berlin oder München eröffnen, erzählt Projektleiterin Stella Shcherbatova. "Als wir angefangen haben, war unser Traum – und ist es bis jetzt - dass wir eine jüdische Hotline bundesweit haben werden. Aber da gab es immer finanzielle Probleme. Aber der Traum bleibt immer als Traum."
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