Theoretische Grundlagen des Eskapismus

Weltflucht ist nicht gleich Weltflucht

Ein Bewohner einer Wagenburg in Lüneburg sägt Brennholz.
Ein Bewohner einer Wagenburg in Lüneburg sägt Brennholz. © picture alliance / dpa / Philipp Schulze
Von Tobias Wenzel · 29.07.2016
Wenn von Eskapismus - also Weltflucht - die Rede ist, dann ist das oft abwertend gemeint: Die Flucht vor der Wirklichkeit, mit der man nicht zurechtkommt. Weltflucht hat aber auch positive Seiten, wissen Psychologen, Philosophen und Filmgeschichtler.
Ausschnitt aus dem Film "The Good Night":
"Du denkst, dass sich in deinen Träumen die Wirklichkeit abspielt und dass das echte Leben nur eine Zeitverschwendung ist?"
"Ja, genau."
Gary Shaller, die Hauptfigur in Jake Paltrows Kinofilm "The Good Night", will nur noch schlafen und träumen. In seinen Träumen wartet die perfekte Frau Anna auf ihn, in der Wirklichkeit nur ein weiterer Streit mit seiner Freundin Dora. Und dass er als Mitglied einer berühmten Band erfolgreich war, liegt auch schon viele Jahre zurück. Also tut Gary alles, um schlafend der realen Welt zu entkommen. Er begeht Weltflucht.

Spannung aus dem Alltag abbauen

Menschen fliehen vor der Wirklichkeit nicht nur in den Schlaf, sondern zum Beispiel auch in die Welt der Drogen, des Internets, der Computerspiele oder des Fernsehens. Dem Kommunikationswissenschaftler Elihu Katz und dem Psychologen David Foulkes zufolge versuchen Individuen mit Massenmedien Spannungen aus dem Alltag abzubauen und Gefühle wie Ohnmacht, Einsamkeit oder unerfüllte Wünsche zu kompensieren.
Ausschnitt aus dem Film "The Good Night":
"Manchmal würde ich mich am liebsten aufs Ohr hauen und nie wieder aufwachen. Wenn dein Lieblingssong nie endet oder dein Lieblingsbuch, wenn die Gefühle, die dadurch hervorgerufen werden, weiter und immer weiter bestehen, wer würde da nicht ewig schlafen wollen?"
Sagt ein selbsternannter Traumexperte im Film "The Good Night". Apropos "Lieblingsbuch": Auch Lesern und Autoren von fiktionalen Texten wird manchmal Eskapismus vorgeworfen. "Gesellschaft ist, wo alles menschenleer", dichtete Lord Byron. Nicht nur Schriftsteller der Romantik, auch Autoren von Fantasy-Geschichten und andere sahen sich wiederholt mit dem Vorwurf konfrontiert, sie machten Kunst im Elfenbeinturm. "Du kannst nur von innen dazulernen; alles Äußere ist bloßer Anstoß", schrieb dagegen Peter Handke. In seinem Buch "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" betonte er, erst die Distanz zur Wirklichkeit erlaube überhaupt die Utopie der Kunst, also "eine neue Möglichkeit zu sehen, zu sprechen, zu denken, zu existieren."

"Selbst-Unterdrückung" oder "Selbst-Erweiterung"

Ausschnitt aus dem Film "Into the Wild":
"Um nicht länger von der Zivilisation vergiftet zu werden, flieht er. Er wandert allein durch das Land und verliert sich in der Wildnis."
In Sean Penns "Into the Wild", dem Kinofilm nach einer wahren Geschichte, kappt der 22 Jahre junge, begabte Christopher McCandless die Verbindung zu seiner Familie, zieht durch die USA und lässt sich in einem verlassenen Bus in Alaska nieder. Allerdings rennt er nicht vor Problemen weg. Er entscheidet sich gegen ein kapitalistisches Leben und für die besitzlose Alternative in der Wildnis. Es ist also weniger eine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern vielmehr eine Flucht aus der einen Wirklichkeit in eine andere.
Eskapismus sei eben nicht immer etwas Negatives, schrieb der norwegische Psychologe Frode Stenseng. Er unterschied zwischen zwei Formen von Weltflucht. Es liege entweder eine negative "Selbst-Unterdrückung" vor, das heißt, der Mensch fliehe vor unangenehmen Gedanken und Gefühlen im Zusammenhang mit zum Beispiel einschneidenden Ereignissen oder veränderten Lebensbedingungen. So flüchtet der Traumsüchtige Gary im Film "The Good Night" vor seinem Frust im Privat- und Berufsleben. Oder man habe es mit dem Eskapismus in der positiven Form der "Selbst-Erweiterung" zu tun; der Mensch entdecke also an sich selbst etwas Neues. Wie Christopher McCandless im Film "Into the Wild":
Ausschnitt aus dem Film "Into the Wild":
"Sie haben unrecht, wenn Sie denken, die Freude im Leben würde hauptsächlich aus menschlichen Beziehungen erwachsen. Gott hat sie überall um uns herum angelegt. Sie steckt überall drin, in allen Dingen, die wir fähig sind zu erfahren. Die Menschen müssen nur ihre Sichtweise auf diese Dinge verändern."
Christopher McCandless, dieser junge idealistische Aussteiger, hätte Ernst Bloch sicher gefallen. "Hier zeichnet sich ein größeres Bild in die Luft, ein wünschend überlegtes", schrieb der Philosoph in seinem Hauptwerk. "Das Prinzip Hoffnung." Ein Mensch, der Weltflucht begehe, könne zwar aus der Warte einer technologisch-rationalen Gesellschaft als "unreif" erscheinen, aber zugleich einen Impuls zum radikalen gesellschaftlichen Wandel geben. Alles sei von Bedeutung, was die "Feuersäule der Utopie" vorm Erlöschen bewahre.
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