Theaterstück in Georgien

Unvergessene Opfer Stalins

Schauspieler auf der Bühne des Royal District Theaters in Tiflis bei einer Aufführung von Tiger und Löwe.
Die Bühne des Royal District Theaters in Tiflis. Gespielt wird "Tiger und Löwe". © Nicholas Brautlecht
Von Stephanie von Oppen · 04.10.2018
Paolo Iaschwili, Tizian Tabidze, Micheil Dschwawachischwili - drei große Namen der georgischen Literatur. Sie fielen 1937 den sogenannten Säuberungen Stalins zum Opfer. Nun wurden diese Ereignisse zum ersten Mal in Georgien inszeniert.
Ein Besuch im Haus der Schriftsteller in Tiflis, ein repräsentativer Bau mit für Georgien typischen Holzveranden und prachtvollen Jugendstilelementen, die europäische Einflüsse ahnen lassen. In der Eingangshalle steht der Schriftsteller und Dramaturg Davit Gabunia und erzählt von der Geschichte des Hauses. In den liebevoll restaurierten Sälen finden heute Lesungen und Konzerte statt. Doch das Gebäude hat auch düstere Zeiten erlebt.
Schriftsteller und Dramaturg Davit Gabunia führt Besucher durch das Haus der Schriftsteller in der georgischen Hauptstadt Tiflis.
Der Schriftsteller und Dramaturg Davit Gabunia© Gia Chkhatarashvili
1937, als der sogenannte "Große Terror" Stalins seinen Höhepunkt erreichte und auch Georgien fest im Griff hatte, war das Haus einer der Schauplätze von Verrat und Denunziation. Autoren wurden gezwungen, vermeintliche Volksfeinde in ihren Reihen zu benennen. Sie wurden ermordet oder nach Sibirien deportiert. Einer der angesehensten Schriftsteller jener Zeit, Paolo Iaschwili, wollte auf keinen Fall seine Freunde verraten.
Iaschwili begab sich während eines der Tribunale in sein Arbeitszimmer im ersten Stock des Hauses, nahm sein Jagdgewehr und erschoss sich. Stumme Zeugen waren zwei Trophäen in Glasvitrinen: ein Tiger und ein Löwe. Bis heute kann man diese beiden ausgestopften Raubtierköpfe im Haus der Schriftsteller besichtigen.
Ein ausgestopfter Tiger und ein Löwe in einem Glaskasten stehen im Haus der Schriftsteller in der georgischen Hauptstadt Tiflis.
Ein ausgestopfter Tiger und ein Löwe im Haus der Schriftsteller in der georgischen Hauptstadt Tiflis waren stumme Zeugen während des Selbstmordes des Schriftstellers Paolo Iaschwili.© Gia Chkhatarashvili
"Tiger und Löwe" heißt auch das Theaterstück, das Davit Gabunia für das Badische Staatstheater in Karlsruhe geschrieben hat, ein Stück über die tragischen Schicksale großer georgischer Schriftsteller während der Stalinzeit – zunächst für deutsche Schauspieler, für ein deutsches Publikum.
Gabunia: "Mein Stück 'Tiger und Löwe' ist ein historisches Stück, es basiert auf wahren Geschichten, aber es ist nicht historisch korrekt im engeren Sinne. Es handelt sich um erfundene Charaktere. 'Tiger und Löwe' war ein Auftragswerk des Badischen Staatstheaters und es musste benutzerfreundlich sein."

Stalins Terror bis heute hochemotionales Thema

Einige Wochen nach der Premiere in Karlsruhe reiste die Theatertruppe nach Tiflis und hatte ihren Auftritt im Royal District Theatre – in deutscher Sprache, mit georgischen Übertiteln – vor überwiegend jungem Publikum.
Im Stück sind die vielen Schicksale – allein 1937 sollen 110 Autoren ermordet worden sein – extrem verdichtet: Jeweils ein Schauspieler steht für die Schriftsteller, deren Frauen, deren Kinder. Nur einer trägt einen nicht austauschbaren Namen: Lawrenti Beria – so hieß der berüchtigte Parteichef, der während der "Säuberungswelle" in Georgien die Ermordung von Abertausenden veranlasste.
Schauspieler auf der Bühne des Royal District Theaters in Tiflis bei einer Aufführung von Tiger und Löwe.
Die Bühne des Royal District Theaters in Tiflis. Gespielt wird "Tiger und Löwe".© Nicholas Brautlecht
Regisseur Data Tavadze: "Wenn wir diese Geschichten erzählen, wie sie sich voneinander verabschieden mussten, wie sie von ihren geliebten Familien getrennt wurden, dann ist das Publikum sehr berührt – auch weil es sich um große Namen handelt: Diese Menschen waren Genies."
Für die Georgier ist Stalins Terror bis heute ein hoch emotionales Thema, das noch lange nicht aufgearbeitet ist. "Tiger und Löwe" ist das erste Bühnenstück, das sich der Geschichte der verfolgten Schriftsteller widmet. Entsprechend hoch war die Anspannung im Publikum. Einige Zuschauer haben geweint.
Tavadze: "Wenn wir diese Namen erwähnen, dann fallen den Zuschauern hier in Tiflis die Bücher der Autoren ein. Das ist der größte Unterschied zu unserem Auftritt in Karlsruhe. Die Leute kennen diese Autoren und auch auf ihnen lastet diese unglaubliche Geschichte. Wir hatten im Publikum Enkel von Menschen, deren Leben zerstört wurden durch das Regime Stalins. Heute sind einige Leute zu mir gekommen und haben mir diese Geschichten ihrer Großeltern erzählt. Darum können wir über dieses Stück nicht wirklich ästhetisch diskutieren, es ist eine eher sehr persönliche Erfahrung."

Lesen als Überlebensstrategie

Ihre großen Schriftsteller kennen fast alle Georgier. Literatur spielt eine große Rolle für ihre nationale Identität. Lesen sei in den besonders schweren 90er-Jahren auch eine Überlebensstrategie für ihn gewesen, erzählt Davit Gabunia:
"Wir hatten kein Fernsehen, aber es gab selbst im kleinsten Dorf Bibliotheken aus der Zeit der Sowjetunion. Also habe ich gelesen, gelesen und gelesen – völligen Trash, aber auch Stendal und Balzac. Und das erste Buch, das mich sehr berührt hat, war Charles Dickens. David Copperfield war wie eine Revolution in meinem Kopf. Ich war also gezwungen zu lesen und vieles hat sich irgendwo in meinem Kopf angesammelt, das ich bis heute gut gebrauchen kann."
Davit Gabunia ist hauptberuflich Dramaturg am Royal District Theatre in Tiflis und hat neben "Tiger und Löwe" schon zahlreiche Theaterstücke geschrieben. Auf der Frankfurter Buchmesse wird er seinen ersten Roman vorstellen: "Farben der Nacht" – eine Geschichte, die im gegenwärtigen Tiflis spielt.

Das Buch "Farben der Nacht" ist im Rowohlt-Verlag erschienen. Einige Bücher von Schriftstellern, die 1937 ermordet wurden, findet man als Neuübersetzungen auf der Buchmesse. Das Stück "Tiger und Löwe" ist am 12. und 21.10. am Badischen Staatstheater in Karlsruhe zu sehen.

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