Theaterregisseur Daniele Bartolini

"Als Außenseiter schaut man anders auf die Dinge"

12:35 Minuten
Die Installation "The Right Way"vom Regisseur Daniele Bartolini (5.von links) war bei der Theaterbiennale in Venedig zu sehen.
Daniele Bartolinis (3. v.r.) "The Right Way" handelt vom Versuch, politisch korrekt zu sein und jede Befindlichkeit zu beachten. © Andrea Avezzù
Daniele Bartolini im Gespräch mit Susanne Burkhardt · 07.11.2020
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Der italienische Regisseur Daniele Bartolini lebt in Kanada. Seine Installation "The Right Way" war bei der Theaterbiennale in Venedig zu sehen. Darin konfrontiert er das europäische Publikum mit kanadischen Sichtweisen auf Toleranz und Genderfragen.
Susanne Burkhardt: Stellen Sie sich vor: ein kleines Filmset, ein Doppelbett, ein älteres Paar. Es soll Adam und Eva in einer intimen Szene spielen. Ein Kameramann begrüßt Sie als Chef-Regisseurin, eine andere Regisseurin dirigiert das Paar. Sie nehmen Platz und schauen zu: Wie der Dreh immer wieder unterbrochen wird – von der non-binären Assistentin – von der Regisseurin, die beide finden, dass das Paar nicht gendergerecht agiert.
"The Right Way" von Daniele Bartolini.
"The Right Way" von Daniele Bartolini© Andrea Avezzù
Immer wieder werden die Gefühle einzelner Beteiligter verletzt – dann wird Ihre Meinung gefragt. Aber wie entscheiden Sie? Nach Überzeugung oder doch vielleicht nach Sympathien für die einzelnen Protagonisten? Die gerade geschilderte Szene habe ich erlebt – in Daniele Bartolinis 20-Minuten-Installation "The Right Way". Der junge Theaterregisseur aus Florenz lebt seit acht Jahren in Kanada, einem multikulturellen Einwanderungsland, in dem größte Toleranz herrscht – in ethnischen, kulturellen, religiösen, politischen oder Geschlechterfragen.
Joyce Powell and Sophie Brender in "The Right Way" von Daniele Bartolini.
Joyce Powell and Sophie Brender in "The Right Way" von Daniele Bartolini© Andrea Avezzù
Kurz vor dem neuen Lockdown der Kultureinrichtungen in Italien war seine Arbeit bei der Theaterbiennale in Venedig zu sehen. Dort traf ich Daniele Bartolini und wollte von ihm zunächst wissen, was ihn so weit weg von seiner Heimat verschlagen hat.
Daniele Bartolini: Ich bin nach Toronto gezogen, weil ich schon lange von Kanada und seinen Künstlern fasziniert war. Meine Partnerin stammt aus Kanada, sie war ein Grund, dorthin zu ziehen. Dazu kommt mein Interesse an anderen Kontinenten – besonders an Nordamerika. Außerdem ist es in Italien nicht leicht, als Künstler zu arbeiten und zu überleben.

"Man kann Dinge aus einer gewissen Distanz betrachten"

Burkhardt: Was würden Sie sagen, wie hat sich Ihre Arbeit dadurch verändert, dadurch, dass Sie plötzlich in Englisch gearbeitet haben?
Bartolini: Es hat zuallererst mich verändert – denn Sprache verändert einen. Genauso wie die Beschäftigung mit einer neuen Kultur. Als Außenseiter schaut man anders auf die Dinge. Und nachdem ich in Kanada ein Außenseiter war, bin ich das jetzt auch hier, in meinem Heimatland Italien. Aber: Als Außenseiter hat man immer einen besseren Draufblick – und kann Dinge aus einer gewissen Distanz betrachten und anders einordnen.
Burkhardt: Es ist also ein Vorteil, wenn man von außen kommt, weil man einen neutraleren oder anderen Blick hat auf das, was vor Ort passiert?
Bartolini: Es gibt dir mehr Freiheiten, denn du bist weniger involviert in das, was vorgeht. Im Ausland habe ich eine neue Sichtweise entwickelt: Du bewertest nicht nur aus deiner eigenen Kultur heraus – sondern aus zwei Kulturen heraus – und dadurch aus einer größeren Perspektive heraus.

"Kanada ist ein sehr offenes Land"

Burkhardt: Sie haben gerade gesagt, dass die Bedingungen in Italien schwierig sind für Künstler, und dass es in Kanada einfacher ist, konsequent und kontinuierlicher als Künstler oder als Theatermacher zu arbeiten – was genau sind die Unterschiede?
Bartolini: Ich war sehr jung, als ich Italien verließ. Also stimmt das vielleicht heute nicht mehr so ganz. Aber Kanada ist ein sehr offenes Land. Das sehr gute Finanzierungs- und Stipendiensystem dort erlaubt einem als Künstler tiefergehende Recherchen und Erkundungen zur praktischen Arbeit.
Dazu kommt: Es gibt eine sehr lebendige italienische Community in Kanada – mit verschiedenen sehr engagierten Kulturzentren – man kann also auf Italienisch arbeiten – aber eben auch auf Englisch oder Französisch – die andere offizielle Sprache in Kanada.
Burkhardt: Soweit ich das verstanden habe, machen Sie ein Theater, bei dem Sie wollen, dass nichts vorausgesetzt wird, dass man unvoreingenommen das Stück sehen kann, kein Theaterexperte sein muss. Wie kamen Sie auf diese Art des Theaters?
Bartolini: Das kam, weil ich es notwendig fand, das Theater wieder stärker mit dem Publikum zu verbinden. Ich habe manchmal das Gefühl, wir haben im Theater den Kontakt zwischen Künstlern und Publikum verloren. Mit meiner Arbeit versuche ich einen Dialog zu etablieren – und eine Erfahrung anzubieten, die nicht über die Bühne gefiltert wird, weil man direkt beteiligt ist.
Das ist aus meiner Migrationserfahrung entstanden: Dieses Gefühl, rumzulaufen und keinen Schimmer zu haben, was genau los ist. Deshalb will ich auch nicht zu viel über meine Show verraten – bevor das Publikum sie selbst erlebt hat.

"Die Diskussion über Diversität ist sehr wichtig"

Burkhardt: Wenn wir über Migration sprechen, ist mir aufgefallen, dass bei allen Produktionen, die ich hier bei der Biennale in Venedig gesehen habe, nie ein Schwarzer Darsteller auf der Bühne zu sehen war, das Thema Diversität scheint hier noch nicht so angekommen zu sein. Wie erleben Sie das?
Bartolini: Leider läuft unsere Produktion von morgens bis abends – daher konnte ich nicht so viele Produktionen sehen bislang – aber die Diskussion über Diversität ist sehr wichtig, um die Menschen, die keine Plattform haben, keine Stimme, um diese gerade in dieser Zeit hörbar zu machen, einzubeziehen. In Kanada gibt es derzeit eine große Debatte darüber, warum es wichtig ist, dass nicht nur Weiße Kunst machen – was ja für eine lange Zeit so war.
Burkhardt: Und haben Sie den Eindruck, dass das in Italien noch kein Thema ist, dass das hier noch nicht so stark diskutiert wird?
Bartolini: So wie ich das sehe, wird das hier nicht so stark diskutiert. Aber ich bin ja jetzt ein Außenseiter und nur alle paar Jahre hier – aber ja, es scheint hier noch nicht so ein Bewusstsein für dieses Thema zu geben.

"Diese Perspektive zu Political Correctness aufzeigen"

Burkhardt: Wir dürfen jetzt über Ihr Stück "The Right Way" nicht zu viel verraten, denn man muss das sehen, ohne vorher viel zu wissen. Das Stück handelt vom Versuch, politisch korrekt zu sein und jeder Minderheit Mitsprache einzuräumen, jede Befindlichkeit zu beachten. Das ist etwas, was in Kanada sehr intensiv gelebt wird, es ist ein sehr tolerantes Land. Es ist sehr aufmerksam gegenüber kultureller Aneignung und der Genderfrage.
Der Premierminister Justin Trudeau hat Kanada proklamiert als das erste postnationale Land in der Geschichte. Was hat Sie an dieser Debatte um Political Correctness interessiert und vielleicht auch verstört, weil darum geht es auch in Ihrem Stück?
Bartolini: Ich wollte einem europäischen, besonders dem italienischen Publikum diese Perspektive zu Political Correctness aufzeigen. Wenn man das Thema nur mit einem italienischen Blick betrachtet, wird man es nicht wirklich verstehen: 50 Prozent der Einwohner der Hauptstadt Toronto ist außerhalb Kanadas geboren worden. Derzeit gibt es dort eine Debatte darum, was es heißt, Kanadier zu sein, und darüber, dass Kanada ein Land ist – begründet auf gestohlenem Land der indigenen Bevölkerung.
Diese Debatte ist sehr wichtig und ein Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. Ich möchte, dass die Zuschauer auf dieses Thema schauen – mit einer anderen Perspektive. Deshalb ist das Stück auf Englisch und nicht auf Italienisch – weil ich will, dass sie sich auf diese Denkweise einlassen – und sich mit den eigenen Gedanken und Schlussfolgerungen konfrontieren. Die Bevölkerung von Kanada ist zu divers – anders als in Italien – als dass es die eine "richtige" Sichtweise geben könnte.
In Kanada hat man ein funktionierendes System entwickelt, in dem es darum geht, einen gemeinsamen Weg zu finden, sich zu tolerieren, zu koexistieren. Hier gelingt das im Vergleich zu vielen Ländern der Welt.

"Die Menschen sehen, die seit jeher keine Stimme hatten"

Burkhardt: Aber so wie ich Ihre Show gesehen habe, stellen Sie sehr viele Fragen, zum Beispiel: Wo ist die Grenze von Toleranz? Was kann man eigentlich in der Kunst machen, wenn man zu tolerant ist, wenn man alle Befindlichkeiten beachtet, die jeder mitbringt? Und ich glaube, Sie haben keine wirklichen Antworten gefunden.
Bartolini: Ich habe keine Antworten gefunden, glaube ich. Es ist ein Transformationsprozess, in dem jede und jeder gefordert ist, in sich selbst hineinzuhorchen. Die Reflexion darüber braucht Zeit. Für mich war es wichtig, auf diesen Prozess aufmerksam zu machen. Natürlich kann man Political Correctness auch als eine Art Zensur verstehen – aber natürlich nur aus Sicht einer bestimmten Gruppe von Menschen.
Wir müssen aber auch die Menschen sehen, die seit jeher keine Stimme hatten. In Kanada sind das vor allem die Schwarze Community, die indigene Community. Die Zensur fand hier doch in der Vergangenheit statt. Und jetzt versuchen wir, genau diese Zensur hinter uns zu lassen, indem wir inklusiv sind. Das steht erst mal gegen eine weiße, heterosexuelle, Cis-Mann-Perspektive.
Darum geht es in dem Stück. Was ich selbst dazu denke – ich weiß nicht.

"Mein Job ist es nicht, Antworten anzubieten"

Burkhardt: Am Ende gibt es eine sehr starke Wende, die zum Nachdenken anregt und einen selbst verunsichert, so viel kann man verraten – und mein Eindruck war, dass Sie Ihre eigene Verunsicherung gespiegelt haben in dieser Arbeit.
Bartolini: Absolut. Als Zuschauer muss man sich verhalten zu dem, was man sieht. Und dann selbst entscheiden, welche Seite, welche Position man einnimmt. Mit wem man sich solidarisiert. Mein Job ist es nicht, Ihnen Antworten anzubieten. Die Fragen liegen in der Luft und Sie müssen entscheiden, wie Sie dazu stehen. Und vielleicht verändern Sie Ihre Meinung im Laufe der Aufführung.
Burkhardt: Wir haben diese Diskussion auch in Deutschland, über Diversität, über Genderfragen. Es ist also nicht so weit weg von Toronto oder von Kanada.
Bartolini: Ja, ich finde es gerade in dieser Zeit sehr wichtig, verschiedene Stimmen zu hören und die Perspektiven zu weiten.
Burkhardt: Diese Eins-zu-Eins-Performances, die sind ja ökonomisch ein Desaster – aber gleichzeitig natürlich Corona-tauglich. Was interessiert Sie so an dieser Theaterform?
Bartolini: Wir können ganz individuell zu jedem Zuschauer auf ganz bestimmte Weise sprechen. Es geht nicht um Quantität, also wie viele Menschen ich mit einer Show erreiche, sondern um die Qualität des Kontakts mit jedem Einzelnen. Vielen Menschen, die solche immersiven Arbeiten gesehen haben und diese besonderen Momente erlebt haben, erinnern sich noch Jahre später daran. Das ist eine außergewöhnliche Erfahrung im Theater.
Burkhardt: Sie sind bei der Biennale die ganze Zeit bei der Produktion – von morgens bis abends bei Ihren Schauspielern und Ihrem Team. Sie können also beobachten, wie die Zuschauer reagieren. Können Sie ein paar Beispiele nennen, was es da für unterschiedliche Reaktionen gibt?

"Die Reaktionen sind total gespalten"

Bartolini: Ja. Ich bin im Raum, weil der Produktionsprozess dieser Art von Performance niemals endet. Das Ganze ist ja ein Ensemble-Stück mit immer nur einem Zuschauer. Wenn also ein Akteur mit dem Zuschauer interagiert, müssen alle anderen darauf reagieren. Ich spreche darüber immer wieder mit den Performern und beobachte das Publikum – wie es reagiert, wie das Stück ankommt.
Die Reaktionen sind total gespalten. Die Zuschauer ergreifen ganz unterschiedlich Partei. Und sie sind immer wieder gefordert, ihre eigene Sicht zu hinterfragen. Manche bleiben ganz passiv, andere greifen aktiv ins Geschehen ein, unterbrechen.
Manche fordern die Regisseurin auf, die Klappe zu halten. Das ist total unterschiedlich.
Burkhardt: Was bedeutet es für Sie, hier zu sein, bei der Theaterbiennale in Venedig? Welche Rolle spielt sie für Sie?
Bartolini: Es ist mein "erstes Mal". Hier dabei zu sein bedeutet mir sehr viel. Ich bin sehr berührt. Denn es ist das Jahr des Coronavirus und ich durfte hierherkommen, mit einer internationalen Produktion – in Zusammenarbeit mit tollen Leuten, die extra in Quarantäne gegangen sind, damit das stattfinden kann.
Wenn wir daran denken, dass der Großteil unserer Kollegen jetzt zu Hause ist, sich nicht ausdrücken kann, dann ist das etwas sehr Besonderes! Und für jemanden, der sein Heimatland verlassen hat – hierher zurückzukommen, das macht mich unglaublich glücklich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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