Als Jurymitglied bei der Theaterbiennale Venedig

Schaulaufen des italienischen Theaters

10:44 Minuten
In einer blau angestrahlten Wand befinden sich vereinzelt Löcher, durch die Schauspieler mit ihren Händen und Armen greifen. Das Stück soll auf diese Weise das Thema "Zensur" behandeln.
Szenebild aus dem Stück "Glory Wall", für das Leonardo Manzan in Venedig ausgezeichnet wurde: Im Spiel durch die Wand wird das Thema "Zensur" verhandelt. © Biennale Teatro/Andrea Avezzù
Susanne Burkhardt im Gespräch mit Janis El-Bira · 26.09.2020
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Knapp 30 italienische Produktionen durfte die internationale Jury der Theaterbiennale in diesem Jahr begutachten. Mit dabei: unsere Redakteurin Susanne Burkhardt. Das prämierte Stück von Leonardo Manzan hat sie enorm begeistert.
In Venedig ist vor zwei Wochen die Filmbiennale zu Ende gegangen. Doch biennale-technisch ging es in Venedig nahezu nahtlos weiter: Vom 14. bis 25. September traf man sich dort zur 48. Biennale Teatro.
Diese ist zwar weniger glamourös als die Veranstaltung der Filmkollegen, wies in diesem Jahr aber eine reizvolle Neuerung auf: Erstmals hatte der italienische Regisseur und künstlerischer Leiter des Festivals, Antonio Latella, eine vierköpfige internationale Jury berufen, die sich knapp 30 freie Produktionen von jungen bis sehr jungen italienischen Theaterleuten angesehen hat.

Provokation aus Liebe zum Theater

Einen Gewinner hat die Jury auch gefunden: das Stück "Glory Wall" von Leonardo Manzan. Susanne Burkhardt, Theaterredakteurin im Deutschlandfunk Kultur, war als Mitglied der internationalen Jury in Venedig vor Ort und hält die Arbeit für "ein extrem außergewöhnliches Stück":
"Latella hat ja ein großes Thema für alle Arbeiten ausgerufen: Zensur. Manzan setzt das auf eine sehr provozierende Weise um. Er stellt zwischen das Publikum und die Bühne eine weiße, ungefähr zweieinhalb Meter hohe Wand. Die steht symbolisch natürlich für Zensur, aber auch für die vierte Wand im Spiel zwischen Publikum und Theater sowie als Zeichen der Abschottung, wie wir sie ja derzeit überall auf der Welt erleben müssen."
"Gespielt wird nur durch ganz kleine Löcher", erklärt Burkhardt weiter. "Wir sehen die Schauspieler also nie ganz. Es gibt sehr witzige interaktive Passagen mit dem Publikum sowie fiktive Dialoge zwischen zensierten Figuren der Geschichte, zum Beispiel Pasolini oder Marquis de Sade – und am Ende steht eine Aussage, nämlich: Zensiert zu werden bedeutet, zumindest die Illusion zu haben, bedeutsam zu sein. Ein Theater, das niemanden interessiert, kann im Prinzip niemandem gefährlich werden, sagt er. Sein Stück ist also eine Provokation aus Liebe zum Theater."

Die ganze Bandbreite des Gegenwartstheaters

Die Entscheidung, dieses Stück zu prämieren, sei der Jury wegen seiner formalen Besonderheit einerseits leichtgefallen. Andererseits sei es aber auch schwierig gewesen, die inhaltlich wie künstlerisch sehr unterschiedlichen Arbeiten zu vergleichen:
"Da gab es kleine One-to-One-Performances mit nur einem Zuschauer. Es gab Schattenspiel, es gab eine Konzertshow, es gab sehr textlastige Arbeiten, klassisches Erzähltheater und auch bewegende autobiografische Arbeiten. Sehr große, aufwendige Produktionen einerseits und dann wieder ganz kleine Produktionen. Es war sehr schwierig, da eine Produktion herauszugreifen, weil wir dann doch überrascht waren, wie viele tolle Produktionen trotz des kleinen Budgets gezeigt werden konnten."

Herausforderungen des italienischen Theaters

Das Budget der Theaterbiennale in Venedig ist mit rund einer Million Euro im internationalen Vergleich tatsächlich ausgesprochen schmal. In der grundsätzlich schlechten ökonomischen Unterstützung der italienischen Theatermacher sieht der scheidende Festivaldirektor Antonio Latella auch den Grund, weshalb die italienische Theaterszene zumeist unter sich bleibt und nur wenige große Namen den Sprung auf die Bühnen im europäischen Ausland schaffen:
"Ein großer Unterschied zu anderen Ländern ist der ökonomische. Mit so wenig finanzieller öffentlicher Unterstützung ist es schwer, im Wettbewerb mitzuhalten. Italien hat noch nicht verstanden, wie wichtig Kultur im Austausch mit der Welt ist. Auf der anderen Seite haben wir eine schwierige Beziehung zur Tradition. Wir müssen erst noch lernen, dass Tradition ein Ausgangspunkt ist, um etwas Neues zu entwickeln. Wir aber halten an den Traditionen fest und an Gewohntem. Einige Regisseure haben mit diesen Traditionen gebrochen – aber um zu arbeiten, mussten sie meist ins Ausland gehen."

Latellas Nachfolge noch unbekannt

Diese Ausgabe der Theaterbiennale war die vierte und zugleich letzte unter Antonio Latella. Wer ihm nachfolgt, ist noch nicht bekannt.
Gut möglich – und für Susanne Burkhardt wünschenswert und im noch immer männlich dominierten italienischen Theater auch angebracht – wäre eine Frau.
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