Theaterprojekt auf Kampnagel

Auf der Anklagebank sitzt der deutsche Rechtsstaat

05:33 Minuten
Filmstill aus der Webserie: Auf einmal sitzt der weiße Richter auf der Anklagebank und ihm gegenüber ein neues, Schwarzes Gericht.
Auf einmal sitzt der weiße Richter auf der Anklagebank und ihm gegenüber ein neues, Schwarzes Gericht. © Judith Rau
Von Natalja Joselewitsch · 07.03.2021
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Auch in Deutschland erleben Schwarze Menschen Racial Profiling und Polizeigewalt. Davon berichtet das Hamburger Künstlerkollektiv „New Media Socialism“ in seiner Miniwebserie „The Justice Project“.
Ein großer Gerichtssaal mit hohen Holzwänden. Auf der Anklagebank sitzt Nasir Jones, ein junger Mann afrikanischer Abstammung, ihm gegenüber das Gericht, drei weiße, feindselig wirkende Männer.
"Ja, meine Herren, ich eröffne die Verhandlung wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz in Form von zwei Gramm Marihuana."
So beginnt die neue Miniwebserie The Justice Project, die dritte Produktion des Hamburger Künstlerkollektivs New Media Socialism.
Dann ändert sich die Szenerie: ein Blitz, optische Effekte und plötzlich sitzt der Richter selber auf der Anklagebank, ihm gegenüber ein neues, ein Schwarzes Gericht. Der Staatsanwalt verliest seine Anklageschrift: "Euer Ehren, wir sind hierhergekommen, um Gerechtigkeit für unseren Bruder einzufordern. Und nicht nur für ihn, sondern für zu viele afrikanische Migranten, die unter den inakzeptablen Bedingungen in Europa leiden."

Unterschiedliche Aspekte struktureller Diskriminierung

Die Serie entspinnt sich zu einer Gerichtsverhandlung gegen den deutschen Rechtsstaat. Im Laufe der Folgen werden mehrere Zeugen aufgerufen, die ihre persönlichen Geschichten und damit über unterschiedliche Aspekte struktureller Diskriminierung erzählen. Die Figuren sind zwar fiktiv, ihre Berichte basieren aber auf realen Erlebnissen der Darsteller.
Da ist zum Beispiel der queere Nigerianer Mister Oulu, der bei seinem ersten Asylantrag aus Scham nicht gleich über seine Homosexualität erzählt hat und dem deshalb die Abschiebung droht. Ganz ähnlich erging es auch dem Darsteller DJ Waxs, der seinen echten Namen lieber für sich behalten möchte:
"Mister Oulus Probleme basieren auf meinen eigenen Erfahrungen, die ich seit 2014 in Europa gemacht habe. Er fürchtet sich, bei seiner ersten Anhörung über seine Homosexualität zu sprechen. Dann geht er nach Deutschland, wird offener und arbeitet als queerer Künstler. Aber weil er bei seinem ersten Gespräch nicht gleich zu seiner Homosexualität gestanden hat, glauben sie ihm hier nicht und wollen ihn zurückschicken."

Drohende Abschiebung

Waxs lebt seit 2017 in Hamburg und ist ein angesehener Künstler in der queeren Szene. Aber trotz zahlreicher Projekte und Kulturförderungen droht ihm die Abschiebung. Und das, obwohl Homosexualität in Nigeria mit hohen Haftstrafen und Verfolgung geahndet wird:
"Nigeria ist absolut nicht sicher für queere Menschen. Es ist sehr gefährlich, auf die Straße zu gehen oder deine Nägel zu lackieren oder überhaupt irgendetwas zu tun, was nicht männlich ist. Das liegt auch an den Religionen: Das Christentum und der Islam glauben, dass wir böse und verhext sind, und deswegen denkt das die ganze Gesellschaft über uns."

In Polizeigewahrsam gestorben: Oury Jalloh und Yaya Jabbie

Ein anderer Zeuge, der in der Gerichtsverhandlung aussagt, berichtet über rassistische Kontrollen und überzogene Haftstrafen für Schwarze Menschen. Er beklagt die vielen Toten, die unter häufig ungeklärten Bedingungen in deutschen Gefängnissen ums Leben gekommen sind:
"Wie viele junge Menschen, die von der Polizei festgenommen wurden, sind hier gestorben? Wir nennen ihre Namen: Oury Jalloh, Laya Condé, Achidi John,Yaya Jabbie, Marieme Sarr, John Amadou und viele mehr."
Einen der Verstorbenen kannte das Künstlerkollektiv sehr gut: Yaya Jabbie, der 2016 in Untersuchungshaft Selbstmord begangen haben soll. Eine Todesursache, die Freunde und Familie nicht glauben können, erzählt sein bester Freund Alagi Jobatti, der den Staatsanwalt spielt:
"Er war niemand, der psychische Probleme hatte. Er war ein richtiger Sonnenschein, ein toller Mensch. Ich habe mit Yaya zusammengewohnt. Er war mein bester Freund. Ich frage mich bis heute, was wirklich passiert ist, aber sie haben den Fall einfach geschlossen. Für mich war das ein richtiges Trauma."

Kraftvolle Serie, die mitnimmt und schockiert

Durch die verschiedenen Einzelschicksale der Zeugen entspinnt sich ein verdichtetes Netz aus erschreckenden strukturellen Ungerechtigkeiten. Die öffentlich zu machen, war auch für Filmkünstlerin Judith Rau ein wichtiges Anliegen: "Es gibt zwar Menschenrechte, aber die gelten eben nicht für alle gleich, und dass das hier passiert, ist vielen nicht klar, und ich denke, es ist wichtig, dass man das mitteilt – immer wieder."
Dabei ist eine kraftvolle Serie entstanden, die gerade durch die authentische Wut und Verzweiflung der Spieler mitnimmt und schockiert. Zwar kommt das Stück manchmal etwas sehr anklagend daher, aber genau das soll es ja auch sein – eine Anklage gegen den vermeintlich gerechten deutschen Rechtsstaat.
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