Theaterprojekt "438 Tage NSU-Prozess"

Aufdeckung eines ungelösten Bombenanschlags

07:31 Minuten
Die Angeklagte Beate Zschäpe sitzt am 11.07.2018 im Gerichtssaal im Münchner Oberlandesgericht zwischen ihren Anwälten Hermann Borchert (l) und Mathias Grasel (r). Nach über fünf Jahren und mehr als 430 Prozesstagen wurden im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München die Urteile gesprochen. Die als Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) bezeichnete Terrorgruppe hatte zwischen den Jahren 2000 und 2007 zehn Menschen in Deutschland ermordet.
Im Gerichtssaal A 101 des Münchner Landesgerichts spielte sich das echte Verfahren unter anderem gegen die Angeklagte Beate Zschäpe ab. © picture alliance / dpa / Peter Kneffel
Matthias Dell im Gespräch mit Britta Bürger · 25.08.2021
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Es gibt keine Video- oder Tonaufzeichnungen vom NSU-Prozess. "Ein Skandal", sagt der Theaterkritiker Matthias Dell. Deshalb sei das Theaterprojekt "438 Tage NSU-Prozess" um so wichtiger: Es stelle sich vollkommen in den Dienst des Protokollierens.
Der NSU-Prozess gegen die Neonazi-Terrorgruppe um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und weitere Beteiligte sollte eines der dunkelsten Kapitel Nachkriegsdeutschlands aufklären. Es ging unter anderem um verheerendes Staatsversagen, V-Leute, ein Netzwerk aus Gehilfen, verschwundene Dokumente, Sprengstoff-Attentate und letztlich um neun Morde an Männern mit migrantischen Wurzeln.
Bundeskanzlerin Angela Merkel versprach den Angehörigen auf der zentralen Trauerfeier 2012 im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt die Aufklärung der Hintergründe. Doch diese blieb aus.
Im Rahmen des zweiwöchigen Kunstfestes Weimar wurde das Theaterprojekt "438 Tage NSU-Prozess – eine theatrale Spurensuche" uraufgeführt. Es ist ein Reenactment, also eine Nachstellung geschichtlicher Ereignisse, des Münchner Gerichtsprozess gegen die rechtsextreme Terrorgruppe. Regisseur Nuran David Çaliş hat eine 17-teilige Serie entwickelt, in der auch Laiendarsteller mitspielen, darunter Angehörige der NSU-Opfer, deren Anwälte und Politikerinnen.

Keine Aufzeichnungen des Prozesses

Der Theaterkritiker Matthias Dell hat den ersten Teil der Theaterreihe in Weimar gesehen. Schon das Eintreten in das alte Funkhaus sei eindrücklich gewesen, sagt er. Um den Eingang herum habe die Bühnenbildnerin Irina Schicketanz eine rote Deutschlandkarte gebaut, auf der die Orte rechter Gewalt eingetragen seien. "Das sind sehr viele Orte, wo rechtsextreme Anschläge verübt wurden", sagt Dell. Im Vorraum hängen Fotos der NSU-Opfer, die eigentliche Bühne sei im alten Sendesaal aufgebaut. Das Bühnenbild, das dem Saal A 101 des Oberlandesgerichts München nachempfunden ist, sehe diesem "doch sehr ähnlich".
Das Stück verarbeite das Verfahren in der Chronologie der Taten und nicht in der Reihenfolge, wie sie im Gerichtssaal besprochen wurden. Und das häufig basierend auf Beobachtungen des Watchblogs NSU-Watch, die fast jeden Prozesstag persönlich verfolgt haben. "Der Prozess wurde seinerzeit weder filmisch noch akustisch aufgezeichnet – was wirklich ein Skandal ist, auch für die Geschichtswissenschaft", meint Dell.

"Im Dienst des Reenactment"

Besonders am ersten Theatertag und Kapitel "Anschlag Kneipe Sonnenschein" sei gewesen, dass die Schauspielerin Rosa Falkenhagen Merkels Trauerrede von 2012 nachgesprochen habe – "inklusive des Versprechens, alles zur Aufklärung der Hintergründe zu tun". Die Merkel-Rede und das Gerichtsgeplänkel zum Anfang des Stückes sei eher störend gewesen.
Jedoch sei es im folgenden stark um das Rohrbomben-Attentat in einer Nürnberger Kneipe gegangen. Çaliş habe es sehr gut gelöst, darzustellen, was das für ein Verbrechen war. Denn erst im Prozess sei durch den geständigen und einzigen reuigen Angeklagten Carsten Schultze die Verbindung des Attentats zum NSU-Netzwerk bekannt geworden. Ohne ihn hätte man den Anschlag nicht zuordnen können.
Dell hat selbst ein paar Prozesstage im echten Gerichtssaal vor Ort verfolgt und sagt, es sei schwierig, in einem Reenactment die wahren Begebenheiten so detailgetreu wie möglich zu gestalten: "Live hat das eine andere Intensität".
Die Inszenierung von Çaliş sei "sehr nüchtern, sehr aufs Lesen und nicht aufs Nachspielen" bedacht. Das Stück stelle sich "vollkommen in den Dienst des Reenactments, das Protokollieren der Erinnerung an den Prozess, weil es eben davon auch keine anderen Aufzeichnungen gibt". "In dieser Form ist es gut aufbereitet", meint Dell.

Kunstfest Weimar 2021
"438 Tage NSU-Prozess – eine theatrale Spurensuche" (in 17 Kapiteln)
5.8. bis 11.9.2021
Altes Funkhaus Weimar oder im Livestream

(sbd)
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