Kitschmomente und melancholisch Schrilles
Die Operette wird von den Theatern und dem Publikum häufig verschmäht. Dennoch lohnt ein Blick auf die Inszenierungen im vergangenen Jahr. Am häufigsten gespielt: Die Berliner Operette „Frau Luna“ von Paul Lincke.
Operette! Ist das nicht ein Auslaufmodell, eine Verlegenheit? In Spielzeitplänen deutscher Theater ist die Operette, wenn überhaupt, meist nur mehr mit einer einzigen Produktion pro Jahr vertreten. Vom “Bettelstudent” bis zum “Weißen Rössel”, von der “Fledermaus” bis zum “Land des Lächelns”, das Feuilleton, aber auch das Theaterpublikum scheint sich für sie kaum mehr zu interessieren.
2013 am häufigsten gespielt wurde noch dazu ein musikalisch ziemlich dürftiges Werk: Paul Linckes Berliner Operette: “Frau Luna”. Die Geschichte einer Mondexpedition, für die der Berliner Mechaniker Franz Stepke einen Expressluftballon konstruiert hat.
“Frau Luna” Neuinszenierungen 2013: Im Sächsischen Landestheater Radebeuel, “Frau Luna” in der Musikalischen Komödie Leipzig, im Theater Regensburg, im Theater der Altmark Stendal, und zuletzt im Theater Hof und: nach mehr als 100 Jahren! 2013, “Frau Luna” zum allerersten Mal ersten Mal in Wien in der Volksoper. Der Mond: das ist in der Inszenierung von Peter Lund für die Berliner Mondtouristen, für die Piefke also: Österreich, ein altmodisches Land, das noch selig, wie auf dem Mond lebt und das man am liebsten an Preußen anschließen möchte. Peter Lund:
„Ich fand, man musste es, wenn man das Stück das erste Mal in Wien richtig präsentiert, nicht zwanghaft aktualisieren, weil dieser Rückblick auf 100 Jahre Deutsch-Österreich ist eine so tolle Folie, auf der man sehr schön kabarettistisch Klavier spielen kann.“
„Surrealismus ist da langweilig dagegen“
Frau Luna 2013 aber auch in Berlin, in der Volksbühne, nicht als Ausstattungsrevue und Musiktheater mit anspruchsvollem Sängerensemble, sondern mit Schauspielern, inszeniert von Regisseur Herbert Fritsch. Theatertreffenverdächtig.
"Es sind darin sehr viel Kitschmomente, die mir viel Spaß machen und die man volle Kanne benützen muss, richtig draufdrücken auf das Ding und manche Dinge in so eine extreme Blödheit steigern, das Stück und die Musik kommt mir vor wie eine Wahnsinnsfantasie. Surrealismus ist da langweilig dagegen. Was sich da einer erlaubt hat, so an einem Ding an Trivialität zusammenzubacken.“
Die Bühne leer, eine Mondscheibe, auf dem sehr effektvoll Mondbewohner und Gestirne sich auf vielen Fahrrädern durch die Weltraumnacht bewegen. Operette eine schräge Dada-Performance, “Berliner Luft”: ein Hauch.
Barrie Kosky: „Ich glaube, dass viele Menschen denken, Operette ist nichts für mich, aber sie denken an die Wiener Operetten-Tradition, aber sie denken nicht an die Berliner Tradition, sie hat viel modernere, viel witzigere Seiten als die Wiener Sachen und wir bringen das alles zurück.“
In der Komischen Oper unter Intendant Barrie Kosky wird Operette neu entdeckt. Kosky hat Paul Abrahams spritzige Jazzoperette “Der Ball im Savoy” erstmals seit der Berliner Uraufführung wieder in Berlin herausgebracht. Melancholisch, schrill, schräg. Ein neues Interesse an der von den Nationalsozialisten vertriebenen Operette nach 80 Jahren übrigens auch in Plauen und Halberstadt. Auch dort wurde die Jazzoperette “Ball im Savoy” kürzlich wiederentdeckt.
Eigenständige New Yorker Operettenkultur
Jazz und Operette – Amerika und Operette. 2013 eine verblüffende Ausgrabung im Theater Gießen. Fast unbekannt war, dass es – lange vor dem Musical – um 1900 in New York eine eigenständige Operettenkultur, “opera comics” gab. Der mit zehn Jahren von Westfalen in die USA ausgewanderte, einst sehr erfolgreiche Komponist Gustave Kerker wurde im Theater Gießen mit seiner 1908 uraufgeführten amerikanischen Tanzoperette “Die oberen Zehntausend” ausgegraben. Fast schon eine Revue mit viel Chor und Ballett
Und noch eine europäische szenische Erstaufführung, 68 Jahre nach der Uraufführung in New York: Kurt Weills “Broadway Operetta” „The Firebrand of Florence” in der Staatsoperette Dresden. Amerikanische Broadway-Musik vermischt mit europäischen Operettenwalzern. Im Mittelpunkt der Bildhauer Benvenuto Cellini. Immer wieder steht der Frauenheld unter dem Galgen.
Die Staatsoperette Dresden hat noch immer ein auf das Genre spezialisiertes Ensemble, Sänger, Ballett und Chor, die tanzen, singen, sprechen und vor allem auch Operetten-Pointen setzen können. Und 2015 wird es für diese Institution, für Staatsoperette, 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, kein Provisorium, sondern ein eigenes neues Haus geben, mitten in Dresden. Die Operette also vielleicht doch noch nicht am Ende?