Fenster zur Welt
„Spielart“ ist kein reiner Avantgarde-Schauplatz. Das Festival zeigt Theater mit dezidiert politischem Blick, zum Beispiel in Produktionen aus China und dem Libanon.
Ein Mann kriecht auf die komplett dunkle Bühne. Mit einem Handscheinwerfer scheint er jeden Millimeter Boden abzusuchen. Fünf weitere Menschen – Männer und Frauen aus China – folgen ihm alsbald, manche arbeiten sich suchend durch den Zuschauerraum nach vorne, leuchten unter die Sitzreihen oder inspizieren die Wände. Auf der Bühne angekommen vereinen sie sich zu einem Menschenknäuel und beleuchten einander. Dann fangen sie an zu reden, nacheinander, erzählen wie sie heißen und dass sie, jede und jeder für sich, vor kurzem in ihre Heimatdörfer zurückkehrt sind, um dort alte Menschen über ihre Erinnerung an die Hungersnot zu befragen, die zwischen 1959 und ’61 viel Elend über die Menschen in der Volksrepublik brachte.
„Memory“, ein Gastspiel des Living Dance Studio aus Peking, der ersten unabhängigen zeitgenössischen Company aus China, die beim Münchner Spielart-Festival mit einer Werkschau gastiert. „Memory“ ist eine Spurensuche, halb Performance, halb Dokumentartheater, mit Videoeinspielungen von Zeitzeugeninterviews zu den Hungerjahren und sich immer wieder zu Skulpturengruppen formierenden Darstellern.
Gemeinsam lesen, ja skandieren sie zum Beispiel Passagen aus einem bis heute in China gebräuchlichen Schulbuch, dass die vielen Hungertoten von vor rund einem halben Jahrhundert ebenso verschweigt wie die Schuld Maos daran, der den Bauern verbat, Vorräte für Notzeiten anzulegen, um die rapide wachsende Zahl von Industriearbeiten zu ernähren.
Eine alte Frau schildert im Video, wie ihr Sohn damals verhungerte und beendet ihre Ausführungen mit den Worten: „Aber erzählt das keinem weiter!“ Man kann sich unschwer vorstellen, wie die Arbeiten des Living Dance Studios in China immer wieder anecken, handelt doch „Memory“ vor allem davon, wie persönliche Erinnerung und offizielles Gedenken auseinander klaffen. Das Pekinger Ensemble will dabei – ganz so wie es die Scheinwerferträger in „Memory“ tun – Licht ins Dunkel bringen.
Die Umsetzung mag dabei kein formalästhetisches Highlight sein, aber „Spielart“ ist seit jeher kein reiner Avantgarde-Schauplatz. Hervorgegangen aus dem Münchner „Theater der Welt“-Festival 1993 und seither alle zwei Jahre, nunmehr also zum zehnten Mal, ausgetragen, versteht es sich als Fenster zur Welt, mit dezidiert politischem Blick.
Afrika auf der Bühne und im Video
Eröffnet wurde Spielart 2013 am vergangenen Wochenende mit der Performance „Das neue schwarze Denken“ des deutschen Duos Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen, das sich einmal mehr mit Afrika befasst. Auf der Bühne: Performer aus dem Kongo, Ruanda und von der Elfenbeinküste. Auch sie versuchen Erhellendes zu leisten, es geht um den westlichen Blick auf jenen Kontinent, den Joseph Conrad einst „Herz der Finsternis“ taufte.
Afrika, dieser kriegsgeplagte Kontinent, spielt auch eine zentrale Rolle in „Situation Rooms“, einer der neuesten Produktionen des Regiekollektivs Rimini Protokoll, das hier sein Prinzip, Menschen als Darsteller ihrer selbst ins Theater zu bringen, auf eine neue Stufe hebt ‒ begegnen diese Menschen dem Zuschauer hier doch nicht auf einer Theaterbühne, sondern in einer begehbaren videogeführten Installation.
Es sind Menschen aus aller Welt, die von ihren Erfahrungen mit Krieg und Waffengewalt berichten. Vom Flüchtling über die Friedensaktivistin über den Vertreter der Rüstungsindustrie bis zum Arzt ohne Grenzen. Rimini Protokoll gehören zu den alten Spielart-Bekannten, daneben suchen die Festivalmacher Tilman Broszat und Gottfried Hattinger aber stets auch nach neuen, unbekannten Namen.
Im Projekt „Cityworks“, einer Art Festival im Festival, bespielen junge Künstler und Künstlerinnen aus der Welt zehn Container, die in der Münchner Innenstadt aufgestellt sind, so zum Beispiel die Dictaphone Group aus Beirut um Tania El Khoury:
"Wir arbeiten mit einer kleinen Gruppe von Asylsuchenden aus Syrien zusammen, die natürlich erzählen, was sie in ihrer Heimat zurücklassen mussten und weshalb sie überhaupt von dort fort sind. Die Präsentation ihrer Geschichten erfolgt interaktiv: die Zuschauer dürfen sich auf Feldbetten legen, wie man sie aus Flüchtlingscamps kennt, und von dort aus Videos ansehen, die die syrischen Flüchtlinge gedreht haben ‒ über einen Tag in München. Dabei bestimmen sie selbst die Ästhetik. Nicht ich habe also Dokumentarvideos gedreht, sie selbst schaffen, mit meiner Hilfe, Filme über ihr Leben in dieser Stadt."
Spielart präsentiert, getreu dem Festivalnamen, unterschiedlichste Spielarten von Theater. Die Grenzen zu anderen Genres sind dabei fließend. Mit Hochglanztheater hat das nichts zu tun, mit spielerischer Leichtigkeit nur in manchen Fällen, wie etwa in der Produktion „Dementia“ des Budapester Theatermachers Kornél Mundruczo, die heute Abend zu sehen war. Auch hier geht es um Vergessen und Verdrängen. Eine Handvoll dementer Psychiatrie-Insassen vegetiert vor sich hin. Nicht nur sie haben ihr Gedächtnis verloren, auch die Gesellschaft hat sie aus dem Bewusstsein verbannt. „Dementia“ ist eine irrwitzige Farce aus der Anstalt mit sexuell freizügigem Pflegepersonal und singenden Patienten. Das Unterdrückte bricht mit Macht aus den Menschen hervor.
Anderes bei Spielart bleibt spröde, fremd, oftmals auch befremdlich. Manches ist anstrengend. Doch wer sich darauf einlässt, wird bei Spielart belohnt mit ungeahnten Perspektiven ‒ mit Schlaglichtern auf die Welt, in der wir leben, nicht nur auf die des Theaters.
Informationen des Festivals Spielart