Vergangenheitsbewältigung auf der Bühne

Von Sven Ricklefs |
In Argentinien wirken die Jahre der Militärdiktatur immer noch nach. Das merkt man auch den Stücken an, die während des Festivals "Spielart" in München gezeigt werden. Doch das Dokudrama "Mi vida despues" arbeitet dabei nicht nur die Trauer über die Verschwundenen auf, sondern wagt auch den Blick in die Zukunft.
Es ist eine dieser furchtbaren Wahrheiten, mit denen sich die Generation der 30-Jährigen heute in Argentinien auseinandersetzen muss, dass etwa der Vater nicht jener harmlose Vertreter war, wie er von sich immer behauptete, sondern Mitglied des Geheimdienstes. Und dass der Bruder nicht der leibliche Bruder ist, sondern dass er eines dieser Tausenden von Babys war, die die Schergen des Militärregimes ihren Opfern raubte. Las Abuealas de la Plaza de Mayo, die berühmten Großmütter suchen heute noch nach vielen von ihnen.
"Mi vida despues" der jungen argentinischen Regisseurin Lola Arias nähert sich der jüngsten argentinischen Geschichte auf sehr eigenwillige Weise. Arias, die sich mit ihren Regiearbeiten bewusst im Raum zwischen Fiktion und Realität bewegt, lässt ihre sechs Schauspieler, die alle zur Zeit der Diktatur geboren wurden, ihre jeweils eigene Familiengeschichte erzählen. Sie sind Kinder von Opfern wie von Tätern gleichermaßen oder Kinder von denen, die sich im Schweigen verkrochen, um unbeschadet durchzukommen. Sie erzählen von sich und zugleich von ihren Eltern, die damals so alt waren, wie sie heute sind und in deren Rollen sie ansatzweise schlüpfen.

Auslöser dieser Erinnerungsarbeit sind Fotos, alte Super8-Filme oder Kleidungsstücke. Indem Arias mit Schauspielern auf der Bühne arbeitet, die von sich selbst erzählen, entsteht eine interessante Mischform zwischen Authentizität und Rollenspiel.

"Das Überraschendste für das argentinische Publikum war", sagt Lola Arias, "dass wir diese tragische und furchtbare Geschichte sehr trocken und vor allem mit ziemlich viel Humor erzählen: dass man sagen kann, ich kann über den Horror und das Absurde der eigenen Vergangenheit auch lachen, ohne dass sie dabei an Bedeutung verliert. Für das deutsche Publikum ist es natürlich zunächst einmal eine entfernte und vielleicht auch ziemlich unbekannte Geschichte, sodass es häufig eher ungläubig reagiert. Viele Leute kommen aus der Vorstellung und sagen, stimmt das wirklich, das kann doch gar nicht sein."

"Mi vida despues", mein Leben danach, war der Auftakt zu den jeweils dreitägigen Gastspielen von insgesamt drei Produktionen von argentinischen Regisseuren der jüngeren Generation beim SpielArt-Festival in München. Dabei hat sich die Festivalleitung um Tilman Broszat im weltweiten Gedenkjahr 2009 sehr bewusst für ein Land als Schwerpunkt entschieden, in dem die Vergangenheit als Bezugspunkt noch immer eine große Rolle spielt.

Auch im dritten Jahrzehnt nach der letzten Militärdiktatur hat das Land diesen sehr dunklen Teil seiner Geschichte noch nicht annähernd aufgearbeitet. Noch immer sind die meisten der ehemaligen Militärs nicht zur Verantwortung gezogen worden, u.a. für die 30.000 sogenannten Verschwundenen, die "desaparecidos", die sie auf dem Gewissen haben. Grund genug, sich auch auf dem Theater weiterhin mit diesem Thema zu beschäftigen.

Tilman Broszat: "Was mich erstaunt hat und was ich wirklich wichtig fand, ist dieser Aspekt, dass dieses argentinische Theater sich auf eine Vergangenheit bezieht, anders als das mitteleuropäische Theater, das doch sehr eine Art von Gegenwartsbezug dauernd sucht. Und dort gibt es ähnlich wie im osteuropäischen Theater eine Art von ästhetischer aber auch inhaltlicher Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Gegenwart."
In "Finales" von Beatriz Catani ist der Vergangenheitsbezug bei Weitem nicht so offensichtlich wie in "Mi vida despues" von Lola Arias, und doch weht auch hier eine Ahnung davon herüber, aus welcher Geschichte dieses Land kommt, wenn immer mal wieder der peronistische Marsch in verschiedenen Variationen angespielt wird. "Finales" ist zugleich drückender, schwerer, verstörender als das bisweilen geradezu leichtfüßig daherkommende "Mi vida despues", das keinen Zweifel daran lässt, dass sich diese junge Generation zwar mit der Vergangenheit auseinandersetzt, zugleich aber auch in eine Zukunft will.

Angeregt wurde Beatriz Catani durch einen Roman von Clarice Lispector, in dem eine Frau eine Kakerlake zertritt und im Angesicht des sterbenden Insekts ihr Leben in Frage stellt. Auch in "Finales" stirbt eine Kakerlake, was bei den vier anwesenden Figuren nicht nur zur Hinterfragung von Leben und Tod führt sondern auch zu eruptiven Explosionen von Körperlichkeit zwischen Masturbation und autoaggressiver Gewalt, deren Exzessivität sich durchaus auch in einer Psychiatrie abspielen könnte.
Das Stück erzählt weder eine Geschichte, noch vermittelt es eine formulierbare Botschaft, dabei ist jedoch der Tod durch die sterbende Kakerlake ständig präsent und das Motiv von Tod und Ende wird in vielen Variationen durchgespielt, schließlich heißt das Stück ja auch Finales, also "Enden".

Argentiniens freie Szene experimentiert mit radikal neuen Theaterformen, das zeigen auch jetzt wieder diese Gastspiele beim Spielart-Festival in München. Und diese Radikalität provoziert umso mehr Respekt, wenn man weiß, dass es für diese Art von Produktionen in Argentinien so gut wie keine Subventionen gibt und dass Schauspieler und Regisseure sich mit anderen Jobs über Wasser halten müssen. Einzige Alternative sind eben Koproduktionen mit Festivals wie Spielart, die zugleich die Möglichkeit bieten, sich im internationalen Kontext zu präsentieren.

Und so zeigt das 8. Münchner Spielart-Festival gleich zu Beginn wieder einmal, wie es geschickt Themen und Akzente zu setzen versteht.