Thea Dorn über Theodor W. Adorno

"Ein großer Anwalt des Nonkonformismus"

16:26 Minuten
Adorno und Böll sitzen in einem Hörsaal und schauen nach vorn.
"Wahnsinnig bürgerlich" im Habitus und wohl auch im Denken: Dennoch ist Theodor W. Adorno, der vor 50 Jahren starb, für Thea Dorn bis heute einer der ganz Großen. © picture-alliance / akg-images
Thea Dorn im Gespräch mit Dieter Kassel |
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Für Thea Dorn ist Theodor W. Adorno, dessen Todestag sich heute zum 50. Mal jährt, die "leuchtendste Philosophengestalt" des 20. Jahrhunderts. Auch aktuell habe Adorno noch einiges zu sagen, etwa was die Analyse des aktuellen Rechtspopulismus angeht.
Eigentlich wollte Thea Dorn sich bloß im Abitur über Ulrike Meinhof prüfen lassen. Doch das akzeptierte die Schule nur unter der Voraussetzung, dass auch Adorno und die Kritische Theorie Gegenstand der Prüfung wurden.
"So kam es, dass ich – damals war ich 18 – also bei meinen Eltern im Garten unter dem Apfelbaum saß und zum ersten Mal im Leben versuchte, 'Dialektik der Aufklärung' zu lesen", erinnert sich Thea Dorn. Vermutlich habe sie damals nicht viel von diesem Text aus den 1940er-Jahren verstanden, der das Doppelgesicht der Aufklärung in einer groß angelegten Vernunft- und Zivilisationskritik deutlich macht.
"Aber ich habe sofort verstanden, dass das nicht nur unglaublich große Gedankenwelten sind, sondern auch Literatur. Ich war auch sofort von der sprachlichen Schönheit gefesselt und würde bis heute sagen, es ist eines der wichtigsten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts."

Die Kunst war für Adorno der einzige Ort der Erlösung

Nach wie vor schätzt Thea Dorn in Adorno den "großen Anwalt des Nonkonformismus, des Nicht-Identischen", der nie auf einen einfachen Nenner zu bringen gewesen sei. Ein Kapitalismuskritiker, der "wahnsinnig bürgerlich" in seinem Habitus und wohl auch in seinem Denken war und der niemals vulgärmarxistisch wurde.
Und der gewissermaßen ein negativer Dialektiker war, für den die Kunst "der einzige Ort der Rettung" war. Das erklärt für Thea Dorn auch, warum Adorno so polemisch wurde, wenn es um die "Kulturindustrie" ging: Jazz lehnte er ab, genauso wie die Beatles und Film und Fernsehen sowieso - weil die Kulturindustrie die Kunst zum Amüsement macht und so deren Erlösungspotenzial verrät. "Amüsement ist die Verlängerung der Arbeit unter dem Spätkapitalismus", so Dorn. "Also dass diese falsche Kunst genau dieselben Zudröhnungs-, letztlich Selbstentfremdungsbedürfnissen erfüllt, wie es der Alltag ohnehin tut."
Schriftstellerin und Literaturkritikerin Thea Dorn
Schriftstellerin und Philosophin Thea Dorn.© Deutschlandradio / Manfred Hilling
Auch für die heutige Zeit hat Adorno einiges zu bieten, meint Thea Dorn. Gerade in seiner Kritik an hohlen Narzissmusgebärden und Pseudoindividualität: "Da ist ganz viel an Adorno, bei dem ich glaube, dass das sehr anschlussfähig auch gerade für Jüngere heute ist."

Abstiegsangst als Motor des Rechtsradikalismus

Nicht zuletzt lassen sich aus Adornos kürzlich wiederveröffentlichtem Text "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus" Dorn zufolge Erkenntnisse über die Dynamik rechter Bewegungen von heute gewinnen.
"Seine zwei Hauptpunkte sind: Das Eine ist die immense Angst der bürgerlichen Schichten vor ökonomischen und sozialen Abstieg, und das kann man, glaube ich, für die Gegenwart unbedingt unterschreiben", sagt die Philosophin. Das andere sei "das Gespenst der technologischen Arbeitslosigkeit, also die Angst davor, die große Sinnkrise aus dem Gefühl heraus, dass mich die Automaten eines Tages überflüssig machen werden. Das finde ich eine sehr luzide Diagnose auch für die Gegenwart."
(uko)

Dieter Kassel: Frau Dorn, wenn man sich nach einer Person ja regelrecht benennt, dann muss einen diese Person ja doch sehr beeindruckt haben. Was genau hat Sie denn an Theodor W. Adorno so beeindruckt und tut es vermutlich auch bis heute noch?
Thea Dorn: Ich komme aus Frankfurt und Adorno war wahrscheinlich der erste Philosoph, vielleicht außer den Griechen, außer Platon, außer Sokrates, Aristoteles, als sprachliches Gymnasium, mit dem ich gewissermaßen groß geworden bin. Zum einen ganz privat, es geisterte in unserem Haushalt eine alte Tonbandaufnahme herum. Mein Vater, der Lehrer war zunächst, bevor er Professor wurde, durfte mit Schülern der Schülerzeitung Theodor W. Adorno interviewen, ich glaube, ein Jahr vor seinem Tod. Dieses Tonband, wo also mein wahnsinnig aufgeregter, noch damals ja noch jugendlicher Vater Adorno und Horkheimer interviewt, das hatte ich so mit 16 oder so zum ersten Mal gehört und war schwerst beeindruckt, dass also mein Papa, der nun wahrlich kein Geistesmensch ist, diesen großen Denker interviewen durfte.
Dann, als es auf das Abitur zuging, hatte ich die kühne Idee, mich, um den Direktor zu ärgern, über Ulrike Meinhof prüfen lassen, und dann sagte mein GK-Lehrer: Das kannst du machen, aber das braucht ein bisschen Fundament, und dann hat er mir gesagt, das geht nur, wenn du über Frankfurter Schule, Adorno, dich auch prüfen lässt. So kam es, dass ich – damals war ich 18 – also bei meinen Eltern im Garten unter dem Apfelbaum saß und zum ersten Mal im Leben versuchte, "Dialektik der Aufklärung" zu lesen, und ich vermute, ich habe nicht sehr viel verstanden damals. Aber ich habe sofort verstanden, dass das unglaublich große, nicht nur Gedankenwelten sind, sondern auch Literatur ist. Also ich war auch sofort von der sprachlichen Schönheit gefesselt und würde bis heute sagen, es ist eines der wichtigsten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts, ganz unbedingt.

Mit Gott und der Welt befasst

Kassel: Aber da sind wir jetzt beim Problem, dass ich glaube gespürt und bemerkt zu haben, gerade im Umfeld dieses Todestages, da ist sehr viel gesprochen, geschrieben worden über Adorno, und oft hatte ich das Gefühl, es blieb doch sehr an der Oberfläche. Zum Teil – das scheint gerade in zu sein – ging es sehr um den Menschen, das Privatleben, dann kamen die zwei, drei berühmten Sätze, die jeder kennt – es gibt kein richtiges Leben im Falschen –, und dann hört es auf. Wenn jetzt jemand wirklich sagt, ich möchte aber keine Sekundärquellen, ich möchte ihn wirklich lesen, haben Sie eine Einstiegsempfehlung?
Dorn: Es kommt ein bisschen drauf an, was einen interessiert. Wenn man es tatsächlich, wenn man sich für Philosophie und das Durchdringen, was ist eigentlich in dieser Menschheitsgeschichte passiert, was sind die großen Fragen, wenn einen die jetzt nicht wirklich interessieren, sondern man eher die kleineren Häppchen bevorzugt, dann ist natürlich "Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben", das ist eine Sammlung von teils sehr kurzen, teils längeren Aphorismen, die sich wirklich mit Gott und der Welt beschäftigen. Also da geht es … der berühmteste aller Sätze mit dem Richtigen, – der kommt daher, und zwar den Kontext kennt bloß keiner. Der Kontext ist der Verfall des bürgerlichen Wohnens. In einem Aphorismus über das bürgerliche Wohnen kommt dieser berühmteste aller Sätze vor. Mein Lieblingssatz aus "Minima Moralia" ist: "Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie ich sagen." Ein sehr boshafter Aphorismus. Da gibt es über den Freischütz und den Rehbraten, es gibt über den Verfall des Hotelwesens, seitdem sich das Hotel vom Bordell emanzipiert hat, es gibt jede Menge Unverschämtheiten, wo unsere geschlechtspolitisch korrekt gestimmte Zeit aufschreien wird.
Ich erinnere mich an einen Aphorismus, wo es heißt, glaube ich: "Einziger Grundsatz der Sexualethik: Der Ankläger hat immer Unrecht." Das ist ein Satz, der mir in MeToo-Zeiten sehr durch den Kopf gegangen ist. Also man findet in dieser Kramkiste "Minima Moralia" wirklich sehr, sehr viel, und das ist sehr leicht zu lesen, sehr pointiert formuliert. Wen die große Fragen interessieren: nach wie vor "Dialektik der Aufklärung", wenn man begreifen will die Paradoxien auch unserer Gegenwart, die wir ja gerade spüren, dass in dem Maße, in dem Menschheit sich von den Naturzwängen befreit, emanzipiert, sie immer stärker gezwungen ist, sich selbst zu unterjochen durch Disziplinierung, die ganzen Selbstoptimierungstendenzen durch technische Geräte, die wir gerade erleben, das sind alles Phänomene, die die Grundthese der "Dialektik der Aufklärung" komplett, finde ich, bestätigen, dass das die Dynamik des Zivilisationsprozesses ist.
Wir gewinnen Freiheit, indem wir uns aus den blinden Naturzwängen befreien, aber in dem Maße, in dem wir uns befreien, unterjochen wir uns selbst. Horkheimer und Adorno fangen an mit einer Interpretation, das ist für sie das Sinnbild des Menschen, der in die Moderne aufbricht, Odysseus, der sich an den Stamm fesseln lässt, der sozusagen den Gesang der Sirenen genießen will und gleichzeitig weiß, wenn er ihm nachgibt, ist er aufgelöst, ist er verloren, geht er ins Wasser, und deshalb lässt er sich an den Stamm binden. Das ist gewissermaßen das zentrale Bild, das durch die ganze "Dialektik der Aufklärung" geht und sagt, das ist das Kennzeichen der modernen, später dann bürgerlichen Gesellschaft: Wir wollen diese Verlockungen hören, aber wir sind so organisiert, unterjochen uns selbst, sodass wir dem nicht nachgeben. Das finde ich wirklich ein ganz, ganz beeindruckendes Buch bis heute.

Adorno war ein "öffentlicher Geisteswissenschaftler"

Kassel: Und das ist natürlich auch ein Teil seiner Werke, die zusammen mit Vorlesungen, aber auch mit Interviews – er war ein sehr öffentlicher Geisteswissenschaftler – dazu geführt haben, dass er immer gerne als Kapitalismuskritiker bezeichnet wird, was stark verkürzt, aber ja nicht falsch ist, und das ist er gewesen. Wenn wir an seine letzten beiden Lebensjahrzehnte in Frankfurt jetzt denken nach seiner Rückkehr aus den USA, das ist er gewesen zur Zeit des westdeutschen Wirtschaftswunders unter anderem. Das heißt, das war eine Zeit, wo, glaube ich, die meisten Menschen dachten, zumindest die soziale Marktwirtschaft, unsere Variante des Kapitalismus ist ja eigentlich was Großartiges. Hat ihn das auf eine gewisse Art und Weise zeitlos gemacht, oder ist er irgendwie auch aus der Zeit gefallen?
Dorn: Ich glaube nicht, dass er aus der Zeit gefallen ist. Also gerade neulich hat mir ein Professor von der Humboldt-Uni gesagt: Adorno wird wieder gelesen. Ganz viele Themen, die im Augenblick ja absolute Modethemen sind, deuten sich bei ihm an. Also er ist der große Anwalt des Nonkonformismus, des Nichtidentischen. Vielleicht wäre Adorno heute sogar ein großer Fürsprecher des Gedankens des Queeren, dass man sich der Kategorisierung entzieht, weil er war ja immer der Denker, der versucht hat zu sagen, das Einzelne muss in einem echten Sinne zu seinem Recht kommen. Er wäre aber auch ein krasser Kritiker sozusagen von hohlen Narzissmusgebärden, also der Satz, den ich zitiert habe, Unverschämtheit bei vielen Leuten, wenn sie ich sagen, wo er sagt, das ist enthöhlte, falsche Pseudoindividualität, das ist nicht das wahre Ich-Sein, was im Austausch mit anderen und der Welt stehen kann. Also da ist ganz viel an Adorno, wo ich glaube, dass das sehr anschlussfähig auch gerade für Jüngere heute ist.
In seiner Kapitalismuskritik war er selber wahnsinnig bürgerlich in seinem ganzen Habitus und, glaube auch, letztlich in seinem Denken. Die Kapitalismuskritik bei Adorno war nie eine irgendwie platte vulgärmarxistische. '68, '69 hat es erheblich gekracht zwischen den revoltierenden Studenten und Adorno bis dahin, dass er das Institut für Sozialforschung hat von Polizei räumen lassen. Also Adorno war nie auf einen einfachen Nenner zu bringen, und das ist auch das, warum ich ihn so liebe. Seine Idee, sein grundsätzliches Denken, die negative Dialektik sagt ja, wir haben widersprüchliche Systeme, und jegliche Hoffnung, zu glauben, das ließe sich auflösen, ist vergeblich. Also wir müssen den bestehenden, offenen Widerspruch aushalten können, und das ist natürlich eine Denkempfehlung für heutige Tage, die unglaublich wertvoll ist, zu sagen, glaub doch nicht, dass wenn irgendwer kommt, der euch Versprechen macht, dass danach irgendwas wieder einfach wäre, wenn das nur durchgesetzt würde. Das ist ein völliger Selbstbetrug. Es geht darum, diese Widersprüchlichkeit auszuhalten.
Kassel: Fast alles, was Sie gesagt haben, würde mir jetzt Gelegenheit geben, direkt anzuschließen an das einzige, wo ich sage, das hat mich immer geärgert an Adorno, und damit habe ich bis heute keinen Frieden geschlossen: Kategorisierungen, in einem Punkt gab es die in seinem Leben, finde ich, nämlich diesen klaren Unterschied, der für ihn immer bestand zwischen dem, was für ihn wirklich Kunst war, echte Kultur, wenn Sie so wollen, und den Produkten der Kulturindustrie, ein Wort, das er sehr gerne und sehr oft benutzt hat. Seine Äußerungen zur Jazzmusik sind ja legendär. Das müssen wir nicht wieder zitieren, aber neulich habe ich ein Zitat gefunden, wo er sich in ähnlich dramatischer, fast schon böser Art und Weise über die Beatles zum Beispiel geäußert hat. Für ihn waren auch Filme, Fernsehen sowieso, Produkte der Kulturindustrie und keine Kunst. Das ist doch eine Kategorisierung, die ich, einfach ausgedrückt, ein bisschen snobistisch finde, aber eigentlich finde ich sie sogar noch ein bisschen mehr als das.
Dorn: Na ja, das sprengt jetzt die Sendung. Also ich glaube, um zu verstehen, woher diese Allergie – und Sie haben völlig recht, da wird Adorno polemisch wie selten, wenn er draufhaut auf die Kulturindustrie –, hat natürlich was damit zu tun, dass er die echte Kunst, gewissermaßen der einzige Ort der Rettung, den er in diesem ganzen Verblendungszusammenhangsystem sieht, der einzige Ort, wo es gelingen kann, dass so ein Moment der Versöhnung aufscheint. Also alles das, wo er sagt, politisch brandgefährlich, wenn das irgendjemand in Aussicht stellt, dieses Moment ganz ich zu sein und trotzdem im Allgemeinen, also sich selbst zu bewahren und in was Größerem aufzugehen, was politisch sofort Faschismusverdacht und alles, in einem guten Kunstwerk, aus Adornos Sicht, geht das.

Amüsement als Verlängerung der Arbeit im Spätkapitalismus

Das ist der einzige Moment, wo bei sich bleiben und Selbstverlust in eins gehen. Seine These ist ja, dass die Produkte – und da müssten wir jetzt in einen sehr detaillierten Streit treten, weil ich stimme der These teilweise zu –, dass die Produkte der, sagen wir mal jetzt etwas, Unterhaltungskultur, genau dieses Bedürfnis nicht mehr richtig erfüllen, weil sie nicht widerständig genug sind, also dem würde er vorwerfen, dass sie das Heiligste – das Wort verwendet Adorno natürlich nicht –, das Heiligste, was die Kunst zu bieten hat, nämlich dieses Erlösungspotenzial verraten sie, indem sie auch die Kunst den Gesetzen sozusagen der falschen – also das ist einer der berühmten Sätze aus "Dialektik der Aufklärung": Amüsement ist die Verlängerung der Arbeit unter dem Spätkapitalismus –, also dass diese falsche Kunst genau denselben Zudröhnungs-, letztlich Selbstentfremdungsbedürfnissen erfüllt, wie es der Alltag ohnehin tut. Also er würde wahrscheinlich heute sagen, einer, der in der Technodisco – ich weiß, macht man inzwischen auch schon nicht mehr –, aber jemand, der in eine Technodisco geht, der kann sich doch auch gleich ans Fließband stellen.
Wo ist denn da noch der Unterschied. Daher, gerade weil die Kunst, glaube ich, das Zentrum von seinem Sein und auch letztlich von seinem Denken ist, war er da so böse und so polemisch und allergisch, wenn diese Kunst die letzte Utopie, die es für ihn gab, wenn die versaut wurde aus seiner Sicht.
Kassel: Gibt es denn irgendwas an Adorno, was Ihnen missfällt, wo Sie sagen, das muss ich ausblenden, damit meine Bewunderung hält?
Dorn: Nein. Ich bin sicher keine gnadenlose Adornitin und Adorno will auch ja nicht angebetet werden. Das fordert ja auch zum Widerspruch heraus. Also zum Beispiel dieser totzitierte Satz, dass es kein richtiges Leben im Falschen gibt, ist natürlich ein Freibrief für alles und jenes zu sagen. Also wenn der Verblendungszusammenhang so total ist, dann kann ich ja sowieso gar nichts mehr machen.
Es gibt schwache Momente in Adornos Werk, wo es so einen Gedanken gibt, zu sagen, also wenn eh alles falsch ist, dann kann ich sowieso gar nichts richtig machen. Diese Momente, die es auch bei ihm gibt, die finde ich ganz, ganz gefährlich, aber es gibt dann – Dialektiker, der er ist – natürlich auch Momente, er war einer, der hat sich eingemischt, er hat Vorträge gehalten, die viel leichter zu verstehen sind als seine zum Teil schwer zu lesenden Texte, also deshalb kann man ihm das generell nicht vorwerfen, aber es gibt manchmal diesen Gestus tatsächlich, würde ich sagen, des Elfenbeindenkers, der an seinem Bechstein-Flügel sitzt und seinen Berg oder Schönberg spielt und dann nicht der kritische, sich einmischende, engagierte Intellektuelle ist, aber das ist nur ein Aspekt, wo ich denke, komm, das weißt du doch selbst eigentlich besser, da musst du jetzt nicht drin suhlen. Aber ansonsten ist er für mich die leuchtendste Philosophengestalt, die es im letzten Jahrhundert in Deutschland gab.
Kassel: Wenn man sich die Frage stellt, welche Bedeutung hat er heute noch, wie wirkt er heute, dann kann man, glaube ich, im Moment nicht an einem Text vorbei, der neu wieder veröffentlicht wurde, "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus". Ist bei Ihnen auch ganz frisch, Sie haben vor 24 Stunden ungefähr gelesen. Ist das ein Text, der einem auch noch mal die Augen öffnet, der heute noch relevant ist?

Die Angst der bürgerlichen Schichten vor dem Abstieg

Dorn: Ja und nein. Ich beschränke mich jetzt erst mal auf die Aspekte, die tatsächlich immens interessant sind für uns. Also er hat es geschrieben in den 60er-Jahren, als die NPD am erstarken war in der Bundesrepublik, und es sind zwei Gründe. Also seine zentrale These ist, man darf sich nie in Sicherheit wiegen, dass der Faschismus besiegt sei, weil die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür, dass es wieder zu faschistischen Bewegungen oder einem faschistischen System kommen kann, die bestehen nach wie vor.
Seine zwei Hauptpunkte sind: Das eine ist die immense Angst der bürgerlichen Schichten vor ökonomischen und sozialen Abstieg, und das kann man, glaube ich, für die Gegenwart unbedingt unterschreiben, und noch aktueller für heute, er nennt das das Gespenst der technologischen Arbeitslosigkeit, also die Angst davor, die große Sinnkrise aus dem Gefühl heraus, dass mich die Automaten eines Tages überflüssig machen werden. Das finde ich eine sehr luzide Diagnose auch für die Gegenwart und auch, was er über die Instrumentarien, wie die NPD damals agierte, beschreibt es sehr, sehr zutreffend für heute, dass er einerseits sagt, deren Geschäft ist die permanente Schürung von Weltuntergangsstimmung – das Antizipieren des Schreckens ist das dann in Adornodeutsch –, wo er sagt, es wird permanent der schlimmste Teufel an die Wand gemalt, und dass die gesamte Substanz dieser Politik eigentlich Propaganda ist.

Das ist wirklich vor 50 Jahren geschrieben worden

Also diese Politik lebt nur davon, dass sie massenpsychologische Tricks aus der Kiste permanent zieht. Was ich auch, wo ich dachte, da kann man an jeden AfD-Parteitag denken, das fand ich sehr interessant, dass er sagt, es scheint so eine Wiederholungstendenz zu geben, dass in diesen völkisch-nationalen Parteien immer der radikale Flügel siegt. Er zieht die Parallelen dazu zum Aufstieg, als die nationalsozialistische Partei die gemäßigteren National-Völkischen unterlagen. Es scheint in der NPD auch einen Flügelstreit gegeben zu haben, wo dann die Radikalen sich durchsetzten, und das gilt ja auch für heute. Ich war baff, als er darauf hinwies, dass Nordhessen lange vor den Nationalsozialisten schon wohl ein braunes und antisemitisches Zentrum gewesen ist. Bei der letzten Landtagswahl in Hessen waren in Nordhessen die AfD-Ergebnisse fast so hoch wie man es sonst nur aus Thüringen oder Sachsen kennt. Also das sind alles so Momente, wo man wirklich aufblitzend erschreckend denkt: Oh mein Gott, das ist wirklich vor 50 Jahren geschrieben worden.
Vielleicht der allerwichtigste Punkt, weil er redet – das ist ein Vortrag vor Studenten in Wien – darüber, wo er sagt, was machen wir nun, wie können wir abwehren, und er sagt: Bloß nicht moralisieren. Das Anrufen von Humanität reizt diese Leute, die dafür anfällig sind noch viel mehr. Er sagt, versucht klarzumachen, dass in solchen Systemen immer nur eins am Ende stehen kann, nämlich genau das Unheil, was beschworen wird, wird passieren. Also so wie wohl Hitler routinemäßig seine Sätze, dann seine Reden, den Satz einflocht, dann kann ich mir ja gleich eine Kugel durch den Kopf jagen, wir wissen, wie er geendet hat. Er hat sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Also dass das klare Szenario immer eine Unheilsperspektive ist, was von diesen autoritären oder neoautoritären Systemen ausgeht, dass das viel effizienter ist als zu moralisieren und darauf zu verweisen, dass das gegen Humanität verstößt, scheint mir ein sehr, sehr einleuchtendes pragmatisches Argument zu sein im Umgang mit Rechtspopulismus oder, richtiger gesagt, Rechtsradikalismus.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Mehr zu Adornos Thesen zum Rechtsradikalismus können Sie auch in dem Gespräch nachlesen, das Simone Miller in der Sendung "Sein und Streit" mit dem Historiker und Rechtsextremismusforscher Volker Weiß geführt hat.

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