Adornos "Studien zum autoritären Charakter"

Der Mensch als Anhängsel der Maschine

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Eine Illustration zeigt einen Mann in grauem Anzug in autoritärer Pose vor gelblichen Strahlen.
Ein charismatischer Führer, zu dem man aufschauen kann: Danach sehnt sich der "autoritäre Charakter" - damals wie heute? © imago / Ikon Images / Taylor Callery
Eva-Maria Ziege im Gespräch mit Simone Miller · 04.08.2019
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Was treibt Menschen zum Antisemitismus? Darauf suchte Adorno Antwort in den vor 70 Jahren erschienenen „Studien zum autoritären Charakter“. Ein bislang unveröffentlichtes Kapitel schlägt nun die Brücke zu seiner Gesellschaftstheorie.
Als die "Studien zum autoritären Charakter" 1949 in den USA erscheinen, ist das mehrbändige Werk in kurzer Zeit vergriffen. Theodor W. Adorno sucht darin mit einigen anderen Psychologinnen und Sozialwissenschaftlern nach Ursachen für die Hinwendung zu Autoritarismus und Antisemitismus. In Deutschland ist das Interesse für die übersetzten Teile der fast tausendseitigen Untersuchung zwar zunächst verhalten, doch in den folgenden Jahrzehnten stößt sie weltweit und disziplinübergreifend auf riesige Resonanz – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund wiedererstarkender rechter Bewegungen.

Der Kapitalismus prägt unsere Psyche

Eva-Maria Ziege, politische Soziologin in Bayreuth, hat nun Adornos ursprünglich geplantes Schlusskapitel übersetzt, in dem er versucht, die disparaten Texte und Ansätze des Werks miteinander in Einklang zu bringen und zwar aus seiner eigenen gesellschaftstheoretischen Perspektive, weshalb der Text es nie in die Bände geschafft hat. Seine positivistisch eingestellten US-Kollegen interessierten sich vorrangig für individualpsychologische Erklärungen. Adorno hingegen sucht in seinen "Bemerkungen" nach sozialen Ursachen und bemüht sich um einen Brückenschlag zu seiner kritischen Gesellschaftstheorie.
Adorno ist überzeugt, erklärt Ziege, dass die materiellen Voraussetzungen unseres Lebens - wie wir arbeiten und konsumieren - unsere Psyche bestimmen. Den modernen Antisemitismus und Autoritarismus führe Adorno vor allem auf die Struktur unseres Wirtschaftssystems zurück.
"Der Monopolkapitalismus des 20. Jahrhundert mit seiner Standardisierung der Warenwelt und auch der Konformismus, der erwartet wird, um sich in der ökonomischen Arbeitswelt behaupten zu können, prägt das Individuum." Das führe Adorno zufolge zu einer Entfremdung der Menschen von der eigenen Arbeit und von den Waren, die sie umgeben.

Entfremdung und moderner Erfahrungsverlust

In den Augen Adornos wird der Mensch in der modernen Gesellschaft zum bloßen "Anhängsel der Maschine", die er zu bedienen hat. "Er denkt, die Menschen leben in einer Situation der Erfahrungslosigkeit, die kompensiert wird durch eine Pseudo-Erfahrungswelt, also die Waren- oder Dingwelt, in der wir uns durch Konsum oder leere Vergnügungen einen Genuss einhandeln, der aber letztlich doch ein standardisiert produzierter, ein entfremdeter ist."
Autoritäre und antisemitische Ideologien entwickeln, Adorno zufolge, dadurch eine Verführungskraft, dass sie einen Ausweg aus dieser Erfahrungslosigkeit anbieten, eine "Scheinspontaneität", wie Adorno schreibt. Sie erschienen als "Gegenmittel für die Leiden, die die rationale Zivilisation erzeugt".

Der Mensch als Anhängsel des Smartphones

Aber trifft diese Diagnose heute, 70 Jahre später noch zu? Ziege ist überzeugt, "dass Adorno bestimmte Ansätze in der modernen Welt der Technik erkannt hat, die heute ein Ausmaß erreicht haben, dass er sich so gar nicht vorstellen konnte". Beispielsweise könne man in der Digitalisierung den von Adorno beschriebenen Erfahrungsverlust wiedererkennen: "Die digitale Welt suggeriert dem Menschen Erfahrung, aber gleichzeitig entzieht sie ihm diese auch dadurch, dass man sich in dieser künstlichen Welt bewegt." Am Smartphone werde das Individuum tatsächlich zum "Anhängsel der Maschine".

Bildung als Ausweg?

Vorsichtige Hoffnungen legt Adorno in die Bildung und die Erziehung zur Mündigkeit:
"Die ständige Arbeit der Vernunft", führt Ziege aus, "das stetige Bemühen im eigenen Denken muss für Adorno der Weg sein zur Überwindung der eigenen Unmündigkeit". So wie Adorno damals auf Bildung setzte, müssen wir das auch heute tun, meint Ziege:
"Bildung – eine ständige kritische Auseinandersetzung in den Erziehungs- und Bildungseinrichtungen mit diesen Fragen - ist notwendig."

Eva-Maria Ziege: "Bemerkungen zu 'The Authoritarian Personality' - und weitere Texte"
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, erscheint am 9. September 2019
161 Seiten, 18 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Zum 50. Todestag von Theodor W. Adorno: Was tun gegen Rechtsradikalismus?
1967 hält Theodor W. Adorno den Vortrag "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus" in Wien. Warum dieser Text heute von "frappierender Aktualität" ist, erklärt der Historiker und Rechtsextremismus-Forscher Volker Weiß.

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