The Meme Makes the Message

Ironische Bildchen machen Politik

29:54 Minuten
Chicagoer Aktivisten versammeln sich am 24. Juni 2020 in der Innenstadt von Chicago, um die Wiederverwendung von Polizeifinanzierungsmitteln für öffentliche Schulen zu unterstützen.
Demonstranten in den USA nutzen das "Distracted Boyfriend"-Meme, um auf die mangelnde Finanzierung von Schulen und Krankenhauspersonal aufmerksam zu machen. © Imago / Zuma Wire
Von Lydia Jakobi und Tobias Barth · 20.09.2021
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Memes sind im Netz zu einem politischen Werkzeug geworden. Pointiert, ikonisch – und manchmal kaum von Fake News zu unterscheiden – prägen sie unsere heutige Sicht auf Politik und Politiker. Auch im Wahlkampf spielen sie eine entscheidende Rolle.
Bild 1: Bundespräsident Steinmeier in Erftstadt, nach der Flutkatastrophe. Er spricht den Opfern sein Mitgefühl aus. Im Hintergrund Kanzlerkandidat Laschet – herzlich lachend. Dazu ein Text: Er lässt Laschet darüber kichern, dass er ohnehin bald in Berlin und nicht mehr im Hochwassergebiet sein wolle.
Bild 2: Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach, einer der gefragtesten Interviewpartner in der Coronapandemie, trägt ein sehr ernsthaftes Gesicht und eine Lockenfrisur. Text: Ich warne eindringlich vor der Dauerwelle…
"Das ist so eine eigene Kunstform. Und neue Memes entstehen täglich, sekündlich." – Das ist El Hotzo, mit bürgerlichem Namen Sebastian Hotz. "Das Tolle an Memes ist, dass es ein Bildmedium ist, und ein Bild erzählt – ja, cooles Sprichwort – mehr als tausend Worte. Das kann deshalb eine sehr einfache und sehr wirksame Form sein, politische Inhalte zu kommunizieren, und das kann ganz großartig funktionieren."
Sebastian Hotz, 25 Jahre alt, geboren in der oberfränkischen Provinz, nennt sich selbst ein lebendiges Satire-Meme. Andere bezeichnen ihn als Internetclown oder Online-Humoristen. Fast 200.000 Menschen folgen ihm bei Twitter, bei Instagram sind es fast eine Million. Jan Böhmermann hat ihn vor Kurzem angeheuert, als professionellen Witzeschreiber für sein Satiremagazin. Womit El Hotzo den Nerv seiner Generation trifft, das ist die Mischung aus Selbstironie und Spott. Zehn bis 20 Witze, viele davon zu brennenden gesellschaftlichen Themen, postet er täglich. Meistens kurze Texte, manchmal auch Memes.
"Ein Meme, das mir extrem im Kopf geblieben ist und von dem ich gar nicht weiß, wer es gemacht hat, das war … Das ist jetzt schwierig, das ist Sprengung von medialen Grenzen. Das war ein Meme eines sehr resigniert aussehenden Mannes, der komplett in Kleidung war. Und der saß im Pool und hat offenbar sich selbst und sein Leben aufgegeben, und um ihn herum waren die ganzen Begriffe, mit denen wir uns den ganzen Tag herumschlagen, sei es Coronapolitik, Klimawandel, struktureller Rechtsextremismus. Alles war in diesem Meme verarbeitet und mit einer gewissen Geisteshaltung versehen, nämlich der dieses Mannes, der sich einfach abgefunden hat damit, dass sich nichts ändern wird."

"Kollektiver Ausdruck der Internetgemeinde"

"Während das Internet-Meme zunächst ganz oft über den humoristischen Charakter definiert wurde, ist der Begriff Internet-Meme zu einer Art Sammelbezeichnung geworden. Und zwar bezeichnet es eine Gruppe verschiedener digitaler Artefakte. Und diese Artefakte vereinen entweder formale oder inhaltliche Gemeinsamkeiten. Beispielsweise verwenden sie alle das gleiche Bild oder ähnliche gemeinsame Textbausteine. Und ganz wichtig ist, dass Memes nie als einzelnes Bild oder als einzelnes Video existieren, sondern sie werden durch ihre Gesamtheit definiert. Da geht es um die Nutzer und Nutzerinnen, die sich Memes bemächtigen, die imitieren sie, eignen sie sich an und verbreiten sie im Internet. Also sie sind kollektiver Ausdruck der Internetgemeinde."

Das, was der Augsburger Kommunikationswissenschaftler Michael Johann mit trockenen Worten beschreibt, könnte man auch so erklären: Memes sind kleine Bedeutungsschnipsel, Sinneinheiten, die von Mensch zu Mensch weitergegeben und dabei immer wieder variiert werden. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Evolutionsbiologie. Inzwischen beschreibt er ein Internetphänomen. Videos, Bilder oder Textbausteine werden kopiert, nachgeahmt, neu zusammengemischt oder parodiert. Sogenannte Imagemakros, häufig Bilder aus Filmen oder frei zugänglichen Fotoarchiven, werden immer wieder zur Vorlage für neue Memes.
Porträt des Kommunikationswissenschaftlers Michael Johann
2015 entdeckte der Kommunikationswissenschaftler Michael Johann das Internet-Meme als Forschungsgegenstand.© privat
Ein Beispiel: das ikonische Foto vom G7-Gipfel in Kanada 2018. Der damalige US-Präsident Donald Trump sitzt in ablehnender Pose am Tisch, die Arme vor der Brust verschränkt. Bundeskanzlerin Angela Merkel lehnt sich zu ihm herüber, hinter ihr die schwarz gekleidete Riege der Staatschefs. Innerhalb kurzer Zeit wurde das Bild zigfach variiert: Trump im Babystuhl, mit dem umgedrehten Nudelteller auf dem Kopf. Trump in Windeln, der von Merkel gefüttert wird. Die Kanzlerin, die ihn ermahnt, dass er mit einem Erwachsenen sprechen muss, bevor er Wladimir Putin als Übernachtungsgast einlädt. Merkel als Trickfilmfigur Marge Simpson, Trump als ihr störrischer Mann Homer.

Enge Verbindung von Memes und Politik

"Ein anderes, sehr ikonisches Meme war das sogenannte Thermi-Lindner-Meme im Vorfeld der letzten Bundestagswahl also. Das war ein Meme, das den FDP-Spitzenkandidaten Christian Lindner kurzerhand zum Thermomix-Vertreter gemacht hatte. Und ganz aktuell finde ich in der Memesphäre die Memes rund um die Spitzenkandidatinnen der großen Parteien dann auch sehr spannend. Solche Beispiele zeigen, dass Internet-Memes und Politik einfach eng miteinander verwoben sind. Und auch, dass diese partizipative Kultur mit der Politik eigentlich jetzt gar nicht mehr irgendwie anders gedacht werden kann."

Die Macht der ironischen Bildcollagen

Als digitales Massenphänomen lassen sich Memes nicht mehr ignorieren. Seit Anfang der 2010er-Jahre stieg das internationale Interesse sprunghaft an, wie eine Abfrage bei Google Trends zeigt. Vorbei sind die Zeiten, da man die digitalen Schnipsel als reinen Internetquatsch belächeln konnte, der mit niedlichen Katzen, Gaming-Screenshots oder Filmsequenzen nur unterhalten wollte.
Memes beeinflussen heute Wahlkämpfe und Politik. Das wurde bereits bei den Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 deutlich: In der Wahlnacht des 9. November schrieben Unterstützer der demokratischen Kandidatin Hillary Clinton bei Twitter: "Wie konnten wir nur verlieren, wir hatten doch all die witzigen Memes?" Doch die hatte auch der republikanische Gegenbewerber. Waren Memes zuvor vor allem Insiderwitze der politischen Linken, kaperten die Anhänger von Donald Trump das Format nun für ihre Zwecke und begannen den "Great Meme War", wie es in der Szene hieß. Die nächste Wahl, 2020, wurde vom Sender CNN dann schon vorab zur Meme-Wahl erklärt.
"Generell sieht man das bei politischen Großereignissen rund um den Globus. Dass die immer wieder ihre eigenen Memes hervorbringen. Angefangen bei den Wahlen in den USA über die Black-Lives-Matter-Bewegung. Und da sind wir gleich auch beim zweiten Bereich, bei den sogenannten Bottom-Up-Bewegungen, im Bereich des politischen Aktivismus. Diese setzen auch stark auf Memes. Und so wissen wir das auch aus der Forschung, beispielsweise aus den USA: Die Occupy-Wall-Street-Bewegung oder auch im Bereich des Arabischen Frühlings, da wurden Memes auch gezielt zu Mobilisierung der Bürger und Bürgerinnen eingesetzt."

"The left can't meme" – Ein Irrtum!

Vielleicht ist es die, der Politik die Kontrolle über diese Themen zu entreißen. Viele Memes kommen von unten. Vor allem von jungen Männern, die damit massenhaft Seiten wie 9Gag, Reddit, Tumblr oder die bekannten sozialen Netzwerke füttern. Politisch interessiert und netzaffin seien sie, so fasst der Kommunikationswissenschaftler Michael Johann die bisher existierenden Studien zusammen. Und eher Mitte-Links. Wie El Hotzo. Oder die Leipzigerin Mathilda. Ihren echten Namen möchte die Mittzwanzigerin im Radio nicht hören. In der anonymen Memesphäre, in der niemand nach Urheberschaft oder individueller schöpferischer Leistung fragt, spielt er ohnehin keine Rolle. Die Studentin kam 2010 zum Meme, erst als Konsumentin, dann als Produzentin.
"Ich schau mir Seiten an mit berühmten Persönlichkeiten aus Filmen der 90er-Jahre, mit Schauspielerinnen oder Models. Also öffentliche Personen, die auf einem Foto einen witzigen Gesichtsausdruck haben. Sogenannte Reaction Memes. Ich mag auch Katzen. Die eignen sich gut als Motive. Und wenn ich sie mit Politik anreichere, diese Bilder, dann kann ich vielleicht sogar Inhalte über Katzen-Memes vermitteln. Ich meine, warum nicht?"
Ihre Themen sind breit gefächert: Lokale Debatten und Alltagsbeobachtungen, Kapitalismuskritik, Feminismus oder auch der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern.
"Ich versuche einfach, eine individuell oder gesellschaftlich erlebte Wahrheit darzustellen. Ob sie jetzt wirklich wahr ist oder ob das das Reale ist, ist eine andere Sache. Ich versuche einfach, einen Fakt pointiert und witzig aufzuarbeiten. Und manchmal versuche ich das anspruchsvoller, und manchmal ist es einfach: je dümmer der Witz, desto besser."

Von der Subkultur zum Mainstream

Mit den Memes ist es allerdings wie mit jeder Jugend-Subkultur. Irgendwann entdeckt sie der Mainstream. In diesem Fall sind das die Parteien selbst, die in der Memesphäre nach jungen Wählerinnen und Wählern suchen. So wie CDU und junge Union, die auf ihrem Instagram-Kanal "CDU Connect" seit einigen Monaten vornehmlich Memes verbreiten: Generalsekretär Paul Ziemiak beim E-Roller fahren, ergänzt um den Satz: "Chabos wissen, wer der Babo ist." Ein Foto von Armin Laschets Wahlkampfteam und darüber in schwarzen Lettern "Unser A-Team". Dass das "ziemlich cringe", also peinlich ist, wie viele Nutzer und Nutzerinnen unter Anleihe des Jugendworts spötteln, gibt die CDU auf dem Instagram-Kanal selbstironisch zu. Der Kanal erreicht trotzdem gut 10.000 Menschen. Tendenz steigend.
"Durch die Pandemie sind die Bedingungen zur klassischen Face-to-Face-Kommunikation erschwert. Und die politische Kommunikation ist da mehr denn je gefordert, die Bürgerinnen und Bürger über die sozialen Medien anzusprechen. Und so ist es für mich nicht verwunderlich, dass Internet-Memes immer häufiger in den Kanälen von Parteien und Politikern auftauchen."

Nutzung von Memes durch Parteien riskant

Das, was der Kommunikationswissenschaftler Michael Johann für einen logischen Schritt in der politischen Kommunikation hält, ist in den Augen von Sebastian Hotz allerdings nicht nur peinlich, sondern auch riskant. Er verdeutlicht es am Beispiel des CDU-Abgeordneten Philipp Amthor, der sich im Netz zu einem der beliebtesten Politiker-Memes gemausert hat. Nicht zuletzt, weil er der Netzgemeinde mit seinen Instagram-Fotos selbst genügend Futter liefert.

Geniale Vorläufer der Memes

"Es ist jedenfalls außer Frage, dass hier eine unglaubliche Dynamisierung der ganzen Bildwelt entstanden ist in den letzten zehn bis 15 Jahren durch den wachsenden Einfluss der sozialen Medien. Und dass sich das bewahrheitet hat, was man schon vor zwei Jahrzehnten – damals noch ein bisschen akademisch – als Iconic Turn bezeichnet hat. Also die Einsicht, dass künftig immer mehr auch, ja, Diskurse, Erkenntnisfelder, ja letztlich über Bilder erschlossen werden und nicht mehr primär nur über Worte und Argumente", sagt der Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich. Er beschäftigt sich unter anderem mit digitalen Bildkulturen – und mit den Wurzeln des Memes in der politischen Kunst.

"Da denkt man natürlich an John Heartfield, da denkt man sicher auch an Hannah Höch. Da denkt man an viele Künstlerin und Künstler, vor allem die der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Das war ja nun eine große gesellschaftliche Erschütterung insgesamt. Deshalb fühlten sich viele Künstlerinnen und Künstler auch herausgefordert, da jetzt auch Stellung zu nehmen. Und wie sollte man es besser tun, als dass man da auch mit aktuellen Bildern und Texten arbeitet? Also dass man etwas ausschneidet aus einer Zeitung, aus einer Zeitschrift und das dann in einen anderen Bildraum versetzt und auf diese Art versucht, dann auch noch einmal Kritik zu üben oder überhaupt erst einmal auf gewisse Probleme aufmerksam zu machen."
Porträt des Kulturwissenschaftlers Wolfgang Ullrich
Bildcollagen waren die Vorgänger der heutigen Memes, sagt der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich.© Robert Hamacher

Überschrift: Der Sinn des Hitlergrußes. Motto "Millionen stehen hinter mir!" Am rechten unteren Bildrand: Adolf Hitler, die Hand erhoben und wie es seine Marotte war nach hinten abgewinkelt. Links am Bildrand, fast die halbe Seite einnehmend: ein dicker Mann im grauen Jackett. Er reicht lässig ein Bündel Geldscheine in die Hand Hitlers.
Diese Montage aus dem Jahr 1932 ist eine der bekanntesten von John Heartfield. Erschienen in der "Arbeiter-Illustrierten-Zeitung" karikiert sie eine im Wahlkampf oft gebrauchte Phrase des Naziführers: "Millionen stehen hinter mir!". Hitler meinte Wähler und Parteigenossen – Heartfield spitzt zu und montiert zur Kenntlichkeit. Bei ihm wird es das Kapital, das hinter Hitler steht. Faschismus als extremste Steigerung kapitalistischer Ausbeutung – Heartfields Montage knüpft an diese Interpretation an und gießt sie für ein Massenpublikum in ein gleichermaßen satirisches und gültiges Bild.
Analog zu den Bilderfluten der heutigen Zeit, die seit der Erfindung des Smartphones wie ein Tsunami den öffentlichen Raum fluten, empfanden die Zeitgenossen damals das Medium der Fotografie mit seinen Möglichkeiten der massenhaften Vervielfältigung als ungeheuer anregend, revolutionär, manchmal auch beängstigend. Bertolt Brecht sprach beim zehnjährigen Jubiläum der "Arbeiter-Illustrierten-Zeitung" (AIZ) 1931 eine Grundsatzkritik aus, die, wer mag, auch analog auch auf digitale Memes anwenden kann:

"Die ungeheure Entwicklung der Bildreportage ist für die Wahrheit über die Zustände, die auf der Welt herrschen, kaum ein Gewinn gewesen: Die Fotografie ist in den Händen der Bourgeoisie zu einer Waffe gegen die Wahrheit geworden. Das riesige Bildmaterial, das tagtäglich von den Druckerpressen ausgespieen wird und das doch den Charakter der Wahrheit zu haben scheint, dient in Wirklichkeit nur der Verdunkelung der Tatbestände. Der Fotografenapparat kann ebenso lügen wie die Schreibmaschine. Die Aufgabe der AIZ, hier der Wahrheit zu dienen und die wirklichen Tatbestände wiederherzustellen, ist von unübersehbarer Wichtigkeit."

Die Wiederherstellung der Wahrheit

John Heartfield sah sich als ein Wiederhersteller der Wahrheit. Oder zumindest als einer, der sie trotz alledem ausspricht – gegossen in ikonische, künstlerisch geformte Collagen, die in ihrer Montagetechnik, zum Beispiel zwei Bilder gegenüberzustellen, eindeutig als Vorläufer der Memes gesehen werden können:
Überschrift: "Wie im Mittelalter … so im Dritten Reich." Die obere Bildhälfte zeigt das Foto eines Steinreliefs aus der Stiftskirche Tübingen: Ein Mann, fast nackt und nur mit Lendenschurz bekleidet, ist in die Speichen eines Rades geflochten – das Abbild einer brutalen Hinrichtung. Die untere Bildhälfte zeigt das Foto eines Mannes in ähnlicher Lage – nur das Rad ist kein Rad, sondern das Hakenkreuz.
Dieses Motiv von John Heartfield erschien 1934. Nach dem Krieg kehrte Heartfield nach Deutschland zurück, wo er bis 1968 in Ostberlin lebte. Es waren die an Kunst und Agitation interessierten westdeutschen Studenten der 1960er -Jahre, die Heartfields Werk und vor allem seine Methode für sich wiederentdeckten, allen voran der in Bitterfeld aufgewachsene Plakatkünstler Klaus Staeck.

Klaus Staeck und seine "Plakatanschläge"

"Bei Staeck ist oft die tagespolitische Aussage sehr zentral, bei ihm auch die Kombination von Bild und Text wichtig, vor allem das Medium des Plakats. Und man kann ihn sicher als Vorläufer des Memes ansehen, da er mit Bildmotiven arbeitet, die bekannt sind. Vielleicht ein bisschen mit dem Unterschied, dass ihm doch auch wichtig war, dass er als Urheber nicht ganz in Vergessenheit gerät durch die Verbreitung des Motivs."
Bildmotiv: Das Gesicht einer alten Frau mit Kopftuch, das fast schon wie ein Leichentuch wirkt: runzlige Haut, eingefallene Wangen, die Augen trüb, der Mund verbittert. Und trotzdem strahlt diese Frau Frömmigkeit aus, erregt Mitleid, erscheint als die personifizierte Armut. Das berühmte Bildnis der Mutter, gezeichnet von Albrecht Dürer 1514. Dazu die Schrift: "Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?"

Klaus Staeck plakatierte mit diesem Motiv zum Dürerjahr 1971 die Litfasssäulen Nürnbergs, der Heimatstadt Dürers. Wie kein Zweiter versteht es der studierte Jurist, mit den Methoden der Text-Bild-Montage Politsatire zu betreiben. Immer wieder mischte er sich auch in Wahlkämpfe ein.
Kunstwerke von Klaus Staeck hängen im Museum aus.
Vorgänger der heutigen Memes: die politischen Kunstwerke von Klaus Staeck.© dpa / Roland Weihrauch
Sein vermutlich berühmtestes Plakat wurde 1972 zur Bundestagswahl 75.000-mal gedruckt. Titel: "Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen!" Staeck, der selbst SPD-Mitglied ist, aber nie Auftragsarbeiten für die Partei gemacht hat, treibt hier die Angstmache der Konservativen Parteien vor den Umverteilungsambitionen der Sozialdemokratie so sehr auf die Spitze, dass sie in der Übertreibung als das erscheint, was sie damals war: lächerlich. Die solcherart Angegriffenen zeigten sich mitunter wenig begeistert. Klaus Staeck, der seine Plakatkunst gern auch doppeldeutig "Plakatanschläge" nennt, sah sich im Lauf seines Künstlerlebens mit zahlreichen Gerichtsprozessen gegen sein Werk und seine Person konfrontiert.
Auch heute bleibt das politische Montieren, das im 21. Jahrhundert unter den Schlagwörtern des Mashups und Remixes läuft, nicht konfliktfrei. Bestes Beispiel: der Fall Renate Künast. Die Grünen-Politikerin wurde mehrfach zum Motiv von Memes. Allerdings waren die weder humorvoll, noch demaskierend oder aufklärerisch. Sie waren beleidigend und falsch, verbreiteten sich jedoch rasend schnell im Netz.

Memes als Fake News und Hate Speech

Auf einem Meme, das ein bekannter ostdeutscher Rechtsextremist 2015 in Umlauf brachte, ist Renate Künast in einer Porträtaufnahme zu sehen. Daneben ein vermeintliches Zitat in weißer Blockschrift. Es setzt sich zusammen aus einem tatsächlichen Zwischenruf von 1986, als Künast in einer Parlamentsdebatte rief "Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist", und einer frei erfundenen Ergänzung. Der Eindruck, der entsteht: Künast findet Pädophilie nicht schlimm. Eine Falschnachricht, auf die weitere, mit immer neuen Schmähungen versehen, folgten: unter anderem ein Meme, das ihr das Zitat in den Mund legt, Integration bedeute, Deutsche müssten Türkisch lernen.
"Das Hasserfüllte, was da dahinter ist, geht nicht spurlos an einem vorüber. Man muss sich dann schon dazu bringen, zu sagen: Ich weiß, dass dahinter ein systematischer und orchestrierter Spin steht, der nämlich genau das will – Leute diskreditieren oder vom politischen Engagement fernhalten."
Renate Künast hatte deshalb mehrere Klagen angestrengt. Eine aktuelle richtet sich gegen den Internetriesen Facebook höchstselbst. Das Netzwerk soll konsequenter gegen derlei Fake News vorgehen – und zwar nicht nur gegen einen gemeldeten Inhalt, sondern auch gegen identische oder sinngleiche. Also in diesem Fall all die Memes, die aus dem ersten Hassbild hervorgegangen sind.
"Wenn Sie früher in analogen Zeiten mal richtig scharf abwertend waren, richtig beleidigend und herabwürdigend, das ist damals eine Person gewesen, und du konntest das gar nicht vervielfältigen. Hier ist es ja so, dass du ganz breite Bevölkerungskreise animieren kannst zu denken, dass man so miteinander reden kann. Da kommen dann Gesellschaftsstrukturen, Hass, Abwertung, so wollten wir alle gar nicht leben."
Künast kann in der digitalen Memesphäre nicht viel guten Humor erkennen. Das mag an ihren persönlichen Erfahrungen liegen – oder an denen ihrer Partei, die im aktuellen Wahlkampf häufig zum Inhalt bösartiger Memes wurde.
"Es polarisiert Politik und macht die Debatte um politische Inhalte fast unmöglich, weil es so plakativ und emotional läuft, dass sie überhaupt nicht mehr die Komplexität von Politik erklären können, nach welchen Regeln und Werten sie das machen, welche Rechte da drin sind. Das ist so, als würde die allgemeine Rechthaberei und Abwertung … als sei das ein politisches Mittel in der Politik."

Sarkastische Weltsicht?

"Sarkasmus ist tatsächlich der vorherrschende Humortyp in Internet-Memes. Also es gibt ganz viele sarkastische politische Memes. Das ist tatsächlich, das haben Studien gezeigt, am weitesten verbreitet. Und das hat natürlich schon zur Folge, dass das die Diskussion auch verwischt."
Humor als sozialer Schmierstoff, als identitätsstiftender Gruppen-Code. Humor als Abwehrmechanismus gegen die Widrigkeiten der Realität, als Möglichkeit, die Obrigkeit der Lächerlichkeit preiszugeben, für einen Moment und wenigstens auf dem Display die Machtverhältnisse umzukehren und zu zeigen, was wirklich ist.
Im digitalen Zeitalter haben Memes als Gegenwartsform der Politsatire all diese Funktionen übernommen. In autoritären Regimen sind Memes in ihrer Doppelbödigkeit sogar oft die einzige Möglichkeit, vorbei an staatlicher Zensur Meinung auszudrücken. Auf der anderen Seite können die satirischen Internetbildchen aber auch polarisieren und komplexe Themen verkürzen oder verfälschen. Was also ist die Zukunft der Memes – auch jenseits des Bundestagswahlkampfes? Als Türöffner für mehr politische Partizipation und einen demokratischen Diskurs, an dem sich alle beteiligen, müssen sie sich erst noch beweisen, sagt Kommunikationswissenschaftler Michael Johann:
"Das ist immer so der idealistische Anspruch, den man mit dem Meme verbindet. Also natürlich haben Memes das Potenzial, dass viele Meinungen, Stimmen in den sozialen Medien aufeinandertreffen und dass es dann zu Aushandlungsprozessen kommt. Aber diese Hoffnung besteht, seitdem es das Internet gibt. Also deswegen bin ich vorsichtig mit der Prognose, dass Memes den politischen Diskurs revolutionieren können. Klar ist, dass der niedrigschwellige Zugang zu Memes die Möglichkeiten zur politischen Teilhabe erweitert. Aber letztlich ist die Frage: Was machen die Menschen daraus."

Regie: Giuseppe Maio
Technik: Jan Fraune
Redaktion: Carsten Burtke
Sprecherin: Lisa Hrdina
Sprecher: Marian Funk, Heino Rindler

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