New Yorker konservieren Musik auf Acetat-Platten
Das Projekt war eine Aufnahmetour: Zwei New Yorker reisten durch die USA und nahmen Musik auf - auf Acetat-Platten. "The 78 Project" nannten sie ihre Tour - in Anlehnung an die Umdrehungszahl der Platten, die sie aufnahmen. Die Reise der beiden dokumentiert der Film "The 78 Project Movie".
Vor vier, fünf Jahren entdeckten zwei musikverrückte Medienleute in New York zwei Exemplare der alten Presto-Vinyl-Aufnahmegeräte, wie sie vor Verbreitung der Tonbandgeräte seit den Dreißigern benutzt wurden - also eine Art überdimensionale Plattenspieler, einen halben Zentner schwer, mit denen man allerdings aufnimmt, wobei ein Schneidstichel eine Rille in eine Azetatscheibe ritzt und damit die Musik auf dieser Scheibe festhält.
Alex Steyermark, der bereits Spielfilme und Pop-Dokus gemacht hatte, und die Musikjournalistin Lavinia Jones Wright kauften die beiden Maschinen und fragten ein paar Musiker, mit denen sie beruflich zu tun hatten, ob sie nicht mal spaßeshalber ein Stück live auf Azetat einspielen wollten: Leute wie Joe Henry, Loudon Wainwright III oder Richard Thompson.
Die Aufnahmesessions filmten die beiden Presto-Fans ab und stellten sie als Webserie "The 78 Project" ins Netz - zuerst aus New York City, aber dann sprach sich das rum, aus dem ganzen Land meldeten sich interessierte Musiker: Folksänger, Punkrocker oder Gospelleute fragten an. Und schließlich packten die beiden ihre Ausrüstung in einen Minivan und fuhren kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten und nahmen auf - in einer Dorfkapelle in Mississippi oder einer Hütte im kalifornischen Topanga Canyon, einer Küche in den Sümpfen von Louisiana oder in irgendeinem einem Hinterhof in Brooklyn. Und jedem, der für ihre Presto singen wollte, legten sie eine Liste mit traditionellen Folksongs vor, und die Musiker suchten sich jeweils ein Stück aus, zu dem sie, warum auch immer, eine Beziehung hatten.
Musiker bei einer Andacht
Natürlich klingt die Musik der abgefilmten Aufnahmen viel besser als die Azetat-Aufnahmen selbst - für die Filme wird die Musik mit heutiger Technik aufgenommen. Dabei sind die Musiker aber immer in der gleichen Andacht zu erleben - während der Aufnahme selbst und erst recht dann beim ersten Abhören: Dabei ist selbst ein alter Hase wie Richard Thompson ganz ergriffen, und Rosanne Cash, in ihrer Küche, meint, jetzt wüßte sie, wie es sich 1923 in Bristol angefühlt hat, als die ersten Carter-Family-Platten gemacht wurden...
Und Valerie June, in einem kleinen Club in Brooklyn, ist beim Abhören weggeflogen!
Valerie June: "Zuerst habe ich zugehört, aber dann... – ich war weg! Ich war in diesem Land, wo andere Stimmen mit mir gesungen haben."
Alex Steyermark: "Wir sind eigentlich nicht an Retrozeugs interessiert, wir sammeln nicht mal 78er Schallplatten. Es geht wirklich darum, zu der Essenz von musikalischer Aufführung zu kommen, und diese Maschine hält genau den Moment der Performance fest."
Lavinia Jones Wright: "Es ist eine sehr gute Ausrede, um im Land rumzufahren und Leute zu treffen und zu sehen, wie ihre Leben aussehen und in ihre Häuser zu gehen als Teil des Aufnahmeprozesses. All das macht diese Geschichte für uns zu so einer faszinierenden Reise, die hoffentlich immer weiter geht..."
Ebenso poetisch wie bodenständig
Bislang haben sie um die 80 Musiker aufgenommen, die nach und nach auf ihre Webseite kommen. Dabei gibt es keinen roten Faden in den Musikkstilen, die sie aufnehmen. Traditionelle Folk Music ist schließlich alles, das Musiker überliefert kriegen, das sie ein wenig verändern und dann weiterrreichen – ob es aus den Appalachen stammt und eher nach schottischer Folklore klingt - oder aus New Orleans und Cajun-Musik mit afrikanischer Gitarre mischt, die auch vor Ort dazugehört.
Das 78-Projekt ist ebenso poetisch wie bodenständig: Die knisternden Aufnahmen öffnen die Tür zur Seele der Musik, die Unmittelbarkeit der Aufnahme befreit sie von der digitalen Verklärung durch Politur, Overdubs und Editing.
Dafür hört man während der Aufnahmen dann auch mal Straßenverkehr und Vogelgezwitscher, Polizeisirenen oder geschäftiges Geklapper: Aber vor allem hört man - pure Hingabe und Freude, tief ins Azetat gefräst.
Dawn Landes: "Sollen wir nicht lieber ins Gewächshaus gehen? Ist ziemlich lärmig..."
Jones Wright: "Ist viel Lärm, ja, klingt wunderbar."
Über dem ganzen 78-Projekt schwebt eine ungewohnte Intimität, die sich (auch) durch die Direktheit des minimalen Equipments einstellt, und die sich geradezu sichtbar verdichtet in dieser halben Minute, die alle jedes Mal schweigend warten, bis sich der Schneidstichel seinen Weg in die Azetatscheibe gegraben hat: Manche Musiker sind dann andächtig, andere neugierig, wieder andere zum Zerreißen gespannt (man sieht es in ihren Gesichtern), und gelegentlich wird auch mal wer ungeduldig.
The Reverend John DeLore: "Sagst du uns, wenn es losgeht?"
Jones Wright: "Ja, klar..... Geht los!"