Es ging so schnell. Gerade mal sechs Monate nachdem ich mich den Protesten angeschlossen hatte, wurde ich das erste Mal angeklagt. Die Anklage bezog sich sogar auf meine allererste Demo.
Studentenproteste in Thailand
Klassischer Tanz als Mittel des Protests: Die junge Thailänderin Sunanrat ist wegen Majestätsbeleidigung angeklagt. Es drohen ihr dafür bis zu 15 Jahre Haft. © Jennifer Johnston, ARD-Studio Singapur
Jugend unter Druck
19:21 Minuten
Viele junge Menschen protestieren immer wieder auf Bangkoks Straßen für eine Reform der Monarchie und einen Rücktritt der seit 2014 regierenden Militärjunta. Den tyrannischen König zu kritisieren, gilt als Majestätsbeleidigung und hat Folgen.
Kanyamon Sunanrat bewegt ihre Hände und Arme elegant zu traditioneller thailändischer Musik. Ihre Finger sind gespreizt und leicht nach hinten gebogen. Mit kleinen Schritten tanzt sie über den Rasen vor einem Café im Zentrum Bangkoks.
"Dieses Land soll sich verändern"
Ihr Gesicht versteckt hinter einer Papp-Maske. Die Ende-20-Jährige hat sie selbst bemalt – mit großen schwarzen starren Augen und roten Lippen.
Auf der Wange prangt die Zahl 112 – durchgestrichen. Sie symbolisiert den Paragrafen 112 – das Gesetz zur Majestätsbeleidigung. Ein Gesetz gegen das auch Sunanrat verstoßen haben soll. Dafür drohen ihr bis zu 15 Jahre Haft.
Sunanrat hat sich Ende 2021 den Studentenprotesten in Thailand angeschlossen. Wie Tausende andere forderte sie auf der Straße mehr Demokratie und weniger Macht für den König.
„Ich wünsche mir, dass sich dieses Land verändert. Thailand kann ein besseres Land werden. Ich wünsche mir vor allem Gleichberechtigung. Der Grund, warum ich mich für klassischen thailändischen Tanz als meine Form des Protestes entschieden habe, ist, weil Thailänder glauben, dass dieser Tanz eine hohe Kunst ist – nur dem königlichen Hof vorbehalten.
Ich will diese Lücke aufheben und den Tanz den normalen Menschen näherbringen. Bei dem Tanz ging es früher ausschließlich um Moral, Traditionen und Regeln. Ich denke, wir haben keine Zukunft, wenn wir hier eingefroren stehen bleiben.“
Behandelt wie eine Kriminelle
Rund 20 Meter entfernt macht ein Mann ein Foto von ihr und der Tanzaktion. Das sei ein Polizist in Zivil, erklärt Sunanrat. Sie kennt ihn schon. Er und andere Beamte folgten ihr ständig.
„Ich fühle mich durch die Behörden bedroht. Ich stehe noch nicht mal vor Gericht, aber die Behörden behandeln mich so, als wäre ich schon verurteilt. Sie behandeln mich wie eine Kriminelle.
Aber das bin ich nicht. Ich bin nur eine Person, die eine andere politische Sichtweise hat als sie. Und das möchte ich in diesem Land einfach ansprechen.“
Doch die Auflagen des Gerichts verbieten ihr das. Sie darf sich nicht kritisch über die Monarchie äußern, nicht an Demonstrationen teilnehmen und nicht das Land verlassen.
„Seit den letzten Klagen gegen mich stehe ich zudem unter Hausarrest. Von 7:00 Uhr abends bis 6:00 Uhr morgens darf ich das Haus nicht verlassen. Davor wurde ich häufig nach Hause begleitet. Sie haben darauf geachtet, dass ich das auch merke, dass sie mir folgen.
Ich sollte mich bedroht fühlen. Es war nicht nur ein Beamter, sondern vier. Und wenn es ein Demotag war, sogar doppelt so viele.“
Monarchie reformieren, Regierungschef absetzen
Die Studenten protestieren für eine Reform der Monarchie und einen Rücktritt des Regierungschefs Prayut Chan-o-Cha. Dieser hatte sich 2014 an die Macht geputscht. Inzwischen hat das Militär seinen politischen Einfluss auch in der Verfassung verankert. Die Verbindung zum Königshaus – bestens.
Den König zu kritisieren, wie Sunanrat, hätte sich bis vor Kurzem in Thailand noch niemand getraut. Das Porträt von Maha Vajiralongkorn hängt überall. Der König hat oder hatte in Thailand eine Art Heiligenstatus.
Das hat sich jedoch im Sommer 2020 geändert. Tausende gingen auf die Straße – kritisierten die Machtfülle des Königs, seinen politischen Einfluss und verschwenderischen Lebensstil. Unter anderem residiert er gerne in seinen Villen in Deutschland am Starnberger See.
Die Jungen wollen Reformen und mehr Rechte
Für die Studentin Sunanrat stehen diese Männer für ein Thailand voller Obrigkeitsdenken, Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Ihre Generation fordert Reformen und mehr Rechte.
„Die Institution, wo ich das Tanzen gelernt habe, ist sehr konservativ. In dieser Moral wurde ich erzogen. Ich habe mich nie schlecht benommen oder bin aus meiner Komfortzone herausgekommen. Anfangs konnte ich nicht an den Protesten teilnehmen, weil ich Angst hatte, dass die anderen mit dem Finger auf mich zeigen würden.
Aber als ich die Ungerechtigkeit gesehen habe und wie die Anführer der Studentenproteste ins Gefängnis kamen, habe ich überlegt, wie ich ihren Kampf fortsetzen kann. Zu der Zeit waren sie alle schon im Gefängnis.“
Eine der Anführerinnen und ein Vorbild von Sunanrat ist Rung, wie die Studentin von allen genannt wird. Rung heißt übersetzt Regenbogen. Als die heute 24-Jährige nach einem Hungerstreik aus dem Gefängnis kam, hat sie sich einen kleinen bunten Regenbogen auf ihr Handgelenk tätowieren lassen. Ein Zeichen der Hoffnung.
Fußfessel mit Batterie
Wir treffen sie in der Thammasat-Universität in Bangkok. Im Dezember will Rung ihren Abschluss in Soziologie machen. Doch eine dicke schwarze Fußfessel lenkt sie häufig vom Lernen ab.
„Es ist eine Last. Es ist, als hätte ich ein Handy an meinem Fuß, das ich ständig laden muss. Es macht Probleme, wenn ich laufe. Ich kann meinen linken Knöchel nicht voll bewegen. Er tut mir ständig weh. Aber ich habe keine Wunden oder so.“
Wie die Fußfessel genau funktioniere, wisse sie nicht, sagt Rung. Sie wisse nur, wann sie das Gerät laden muss. Sie drückt auf einen Knopf auf dem schwarzen Plastikring um ihren Knöchel.
„Siehst du, wenn du den Knopf drückst, dann leuchten farbige Lämpchen auf. Wenn die Batterie leer ist, werden die Lichter erst gelb, dann rot, dann piept es. Am Ende kommt nur noch ein langer Piep-Ton, dann geht nichts mehr. Dann bekomme ich einen Anruf und sie sagen: Lade bitte die Batterie.“
"Ich habe überall gezittert"
Rung ist das Gesicht der Studentenproteste. Sie war die Erste, die auf offener Bühne den König kritisiert hat. An diesen, Tag im August 2020, erinnert sie sich noch sehr genau.
„Ich hatte Angst. Große Angst. Ich habe überall gezittert. Ich habe meine Freunde gebraucht, die mich immer wieder hinter der Bühne umarmt haben, damit ich mich beruhigen konnte. Ich wusste, was für ein Risiko das, was ich sagen würde, mit sich bringen könnte. Ich wusste es.“
Auf der Bühne verlas sie zehn Forderungen – für eine Reform der Monarchie – ein Aufbrechen von aus ihrer Sicht alten, verkrusteten Strukturen.
"Während ich geredet habe, habe ich die Zuschauer beobachtet, ihre Reaktion, ob sie weglaufen. Aber keiner ist weggelaufen. Keiner hat protestiert oder die Bühne gestürmt. Es gab nur Jubel und Applaus. Da hat sich mein Gefühl verändert. Es war der Start von Demokratie."
Rung schaut auf ihre langen künstlichen Fingernägel, darauf kleben kleine glitzernde Steine. Auf ihrem linken Unterarm hat sie die Zahl 112 eingeritzt – den Paragrafen zur Majestätsbeleidigung. Die Zahlen sind vernarbt.
Die Anklagen wegen Majestätsbeleidigung machten ihr am meisten Sorgen, weil die Haftstrafen so hoch seien. Insgesamt ist die Studentin in 26 Fällen angeklagt. Derzeit ist sie nur auf Kaution frei, um zur Uni gehen zu können.
„Ich bin müde, weil ich so häufig zu Gericht muss. Während der Uni-Ferien, bin ich fast jeden Tag dort gewesen. Jetzt, wo die Universität wieder losgegangen ist, muss ich Unterrichtsstunden ausfallen lassen, wie gestern, um zum Gericht zu gehen.
Das macht es mir schwierig, mein Leben zu regeln. Besonders jetzt, wo ich so viel in der Uni zu tun habe, weil ich kurz vor dem Abschluss stehe.“
Zweifel an der Unabhängigkeit der Gerichte
Die Anwältin Kunthika Nutcharut nennt das soziale Folter. Sie und ihr Vater vertreten viele Aktivisten – auch Rung. Insgesamt seien rund 200 Menschen in Thailand wegen Majestätsbeleidigung angeklagt, darunter mehr als ein Dutzend Minderjährige.
„Wir sind überwältigt, überarbeitet, überladen, und dann kommt noch die Vertrauensfrage hinzu.“
Damit meint die 31-Jährige ihr Vertrauen in die Gerichte. Dass sie wirklich unabhängig von politischen Einflüssen entscheiden.
„In den zwölf Monaten, in denen ich hier arbeite, habe ich mehr als 20, 30 Mal gesehen, dass der Richter den Raum verlassen hat, und sagte, wir gehen kurz raus, um Rat fragen. Wir wissen nicht, wen sie fragen, was sie fragen.
Und das ist der Grund, warum viele Menschen bezweifeln, dass die Urteile, die im Gerichtssaal gesprochen werden, unbeeinflusst sind, dass der Richter wirklich eine freie Entscheidung trifft.“
Die Anwältin hat die vergangenen acht Jahre in Saarbrücken gelebt – erst studiert, dann gearbeitet. Ihr Vater Krisadang Nutcharat hatte sie ins Ausland geschickt, zur Sicherheit. Er wurde als Anwalt für Menschenrechte zu der Zeit immer wieder bedroht.
Ein "dinosaurierhaftes" Land
Die Rückkehr nach Thailand vor einem knappen Jahr war für die 31-Jährige ein Kulturschock.
"Ich war superüberrascht. Ich denke, hier läuft ziemlich viel falsch. Ich vermisse Deutschland sehr. Ich schätze die Freiheit dort inzwischen sehr. Ich habe das Gefühl, wir hängen hier 120 Jahre hinter Deutschland hinterher.
Ich weiß, dass es auch in Deutschland Probleme gibt. Ich lese die deutschen Nachrichten, aber wenigstens können die Menschen zur Polizei, zu Gericht gehen oder die sozialen Medien nutzen. Sie bekommen Gerechtigkeit. Aber in diesem Land ist es etwas dinosaurierhaft.“
Sie sieht daher noch stärker als früher die Notwendigkeit, die Demokratieaktivisten juristisch zu vertreten.
„Erstens ist es das Richtige. Und zweitens, denke ich sind diese Jugendlichen sehr inspirierend. Das erste Mal als Rung und andere Aktivisten etwas unternommen haben, standen mir die Haare zu Berge. Ich dachte, ich kann meinen Augen nicht trauen. Ich hätte nicht gedacht, dass Menschen das zu meinen Lebzeiten machen würden.“
Bis ans Lebensende ins Gefängnis?
Sie kann die Proteste der Aktivisten gut nachvollziehen. Manchmal würde sie die Jugendlichen aber auch gerne stoppen. Etwa dann, wenn sie mit einer Aktion nicht ihr Ziel erreichen, dafür aber bis ans Ende ihres Lebens ins Gefängnis kommen. Doch selbst das würden die allermeisten für ihre Ziele in Kauf nehmen.
„Die Unterdrückung in Südostasien ist zu groß und sitzt zu tief. Wer Aktivist wird, weiß, dass er sein ganzes Leben im Gefängnis verbringen, sogar sterben könnte. Ich habe darüber mit vielen meiner Klienten gesprochen. Gerade gestern hat mir erst wieder einer gesagt, dass, wenn er in den Hungerstreik tritt, weil sie ihm keine rechtmäßige gesetzliche Kaution geben wollen, ich ihn sterben lassen solle.“
Ihr Vater schaut zu ihr rüber. Er ist ein bekannter Menschenrechtsanwalt in Thailand, vertritt seit Jahrzehnten Aktivisten.
Sein Schlüsselerlebnis war das Oktober-Massaker 1976. Thailändische Polizisten und rechte paramilitärische Gruppen hatten damals Dutzende protestierende Studenten auf dem Campus der Thammasat-Universität ermordet, einige wurden sogar in Bäumen auf dem Campus erhängt.
Der Job ist gefährlich
Krisadang Nutcharut überlebte, aber die Erinnerung daran treibt ihn noch heute in seiner Arbeit an. Für seine Tochter hätte er sich dennoch einen anderen Job gewünscht.
„Um ehrlich zu sein, ich wollte nicht, dass sie das Gleiche macht wie ich, denn es ist gefährlich. Mit ihrem Abschluss und ihren Englischsprachkenntnissen hätte sie in eine große internationale Kanzlei gehen sollen mit hohem Gehalt. Aber sie war schon immer so – ohne mein Zutun.“
Gemeinsam sitzen Vater und Tochter in ihren schwarzen Roben im Gerichtssaal. Heute geht es um den Fall eines Mannes, der vor dem Gericht für die Freilassung anderer Aktivisten protestiert und sich vor dem Gemälde des Königs den Kopf rasiert hatte.
Heute kritisch auf Social Media, morgen im Knast
Ein Affront in einem Land, in dem Menschen schon im Gefängnis landen, wenn sie in den sozialen Medien etwas Kritisches über den König posten. Argumente werden ausgetauscht, am Ende darf der Mann im grünen T-Shirt vorerst gehen – gegen Kaution.
Zudem muss er sich alle 15 Tage bei Gericht melden. Er ist erleichtert, sein kleiner Sohn rennt um ihn herum, klettert immer wieder auf seinen Arm.
Die Gruppe geht die breiten Steintreppen runter ins Erdgeschoss. Dort reihen sie sich in die Schlange vor einem Schalter ein, um die Kaution zu zahlen – mit Spendengeldern aus der Bevölkerung. Der Raum erinnert an eine kleine Bahnhofshalle. In der Mitte stehen Dutzende festinstallierte blaue Plastikstühle. Es wird sich gegrüßt, umarmt, man kennt sich.
Viele Aktivisten müssen sich hier mehrmals im Monat melden, als Beweis, dass sie noch im Land sind. Oder sie müssen einen Antrag stellen, wenn sie verreisen, arbeiten, zur Uni oder auf ein Konzert gehen wollen, das zeitlich außerhalb der Ausgangssperre liegt. Eine der Wartenden ist deutlich älter. Die Studierenden nennen sie nur Tante Pao.
Die Ende 60-Jährige ist Straßenverkäuferin. Im September vergangenen Jahres zog sie sich bei Protesten nackt aus, um schwer bewaffnete Polizisten zu stoppen. Sie sagt, so wollte sie verhindern, dass diese die teils noch minderjährigen Demonstranten verhaften. Tante Pao war erfolgreich, keiner traute sich näher ran. Gegen sie laufen nun mehrere Verfahren.
"Thailand wird sich verändern"
Anwalt Krisadang Nutcharut bahnt sich seinen Weg an ihr vorbei durch den vollen Warteraum. Er ist zuversichtlich.
Selbst wenn wir die Studenten nicht hätten, wird sich Thailand unweigerlich verändern. Denn die Welt verändert sich. Die Menschen werden schlauer und haben Zugang zu den neuesten Technologien. Was ich mir noch zu meinen Lebzeiten wünschen würde, ist ein wirklich demokratisches System, in dem niemand das Recht hat, über andere zu bestimmen und alle Steuergelder zur Unterstützung des thailändischen Volkes verwendet werden.
Auch die ehemalige Anführerin der Proteste, Rung, ist zuversichtlich. Wenngleich sie sich jeden Tag frage, ob es das alles wert war.
"Als ich die Aktion im August gemacht habe, war mein Ziel, die Leute dazu zu bringen, dass sie im Alltag über das, ich nenne es mal, das monarchische Institut sprechen können. Am Anfang habe ich mir nicht träumen lassen, dass das von heute auf morgen passieren würde. Ich dachte, dass es bestimmt fünf Jahre dauern würde. Aber es ist sofort passiert. Das ist es mir wert."
Nach ihrem Abschluss würde sie gerne mit Jura weitermachen. Ihr Traum ist, eines Tages Justizministerin von Thailand zu sein – einem Thailand mit Meinungsfreiheit, Demokratie und Gleichberechtigung.
Unterstützende Nachrichten von Freunden
Kanyamon Sunanrat geht für diese Ziele weiter auf die Straße, tanzt – trotz der gerichtlichen Auflagen, die ihr das eigentlich verbieten. Es sind deutlich weniger Demonstranten unterwegs als zu Beginn im Sommer 2020.
Die vielen Verhaftungen, Gewalt, die schlechte wirtschaftliche Lage seit der Corona-Pandemie – die Menschen können sich den Protest nicht mehr leisten oder sind abgeschreckt. Sunanrat weiß aber, dass viele Freunde sie dennoch unterstützen.
„Sie haben Angst, so wie ich in der Vergangenheit, aber sie haben mich online nicht entfreundet oder geblockt. Sie schreiben mir weiter unterstützende Nachrichten. Sie zeigen es nur nicht in der Öffentlichkeit.“
Am Ende hat Sunanrat den Druck im Land wohl nicht mehr ausgehalten. Sie ist vor wenigen Tagen nach Frankreich geflohen – kurz nachdem sie erneut auf Kaution frei war. Sie will politisches Asyl beantragen.