Teil 3: Dirk Hoffmann

Wie ich wurde, wer ich bin

Dirk Hoffmann
Analphabet mit Roller-Führerschein: Dirk Hoffmann © Sandra Merseburger
Von Thilo Schmidt  · 19.12.2018
Dirk ist Analphabet, kann nicht lesen und nicht schreiben. Aber: Er hat sich selbst immer mehr zugetraut als andere ihm zutrauten. Und sich so seine kleinen Freiheiten hart erkämpft.
Kaffee und Kuchen stehen schon auf dem Tisch. Dirk Hoffmann, dunkles, kurzes Haar, Brille, Zausebart und sehr korpulent, empfängt mich in seiner Einraumwohnung in Berlin-Friedenau. Und das wichtigste an diesem Umstand ist, dass er hier überhaupt ganz alleine wohnt, wenn auch drei Mal die Woche ein Betreuer kommt. Um nach der Post zu sehen, Bankgeschäfte und alles andere zu erledigen, was mit Zahlen und Buchstaben zu tun hat. Denn Dirk ist Analphabet. Und es gibt Brüche in seinem Leben. Den ersten, als er anderthalb Jahre ist. Im Rheinland, bei seiner leiblichen Mutter.
"Aus Erzählungen weiß ich, dass meine ältere Schwester uns dann nach draußen genommen hat. Also von meiner leiblichen Mama hat sie uns nach draußen genommen. Also hat sie Bescheid gesagt, dem Jugendamt, und da ist das Jugendamt gekommen und hat uns in unterschiedliche Pflegeeltern gesteckt."
Dirk landet in einer Pflegefamilie in Berlin-Kladow. Bei Eltern, die sich herzlich um ihn kümmern: Dirk ist unterernährt und abgemagert, als er in seine Pflegefamilie kommt.

Das Brotversteck im Schrank

"Heimlich hab ich dann geguckt, wo ich denn Essen herkriegen konnte, ich hab sogar der Nachbarskatze das Essen weggegessen. Also das war so weit, dass ich dann Katzenfutter probiert hab. Und wo ich denn in der WG gewohnt habe, hab ich öfter Brot versteckt im Schrank. Dass ich Angst habe, dass ich nichts zu essen hab´."
Auch wenn er sich in der betreuten WG wohlfühlt, will er ausziehen, unbedingt selbstständig sein. Und kein Essen mehr verstecken müssen.
Zu seinen alten Mitbewohnern hat er einen guten Draht. Er besucht sie gelegentlich und sie ihn. Für seine Pflegefamilie kocht er sogar manchmal.
"Ich lad die ein zum Kartoffelessen. Lad ich sie dann ein. Also ich mach Kartoffelsuppe. Hab ich gelernt, das zu kochen. Das ist hier mein Koch-Ordner."
Dirk zeigt mir sein Kochbuch. Ein Ordner mit Rezepten. Ohne Text, mit dem Dirk nichts anfangen könnte, sondern mit Bildern. Er hat es zusammen mit seinem Betreuer gestaltet.

Ein Bilderbuch zum Kochen

"Also zum Beispiel Eier kochen. Da sind die Handgriffe beschrieben, was man so braucht, um Eier zu kochen."
Jeder Schritt ist mit einem Foto dokumentiert: Ei, Eierpiekser, Wasser, ein Wecker, der auf sechs Minuten gestellt ist. Dirk möchte es selbst in die Hand nehmen. Seine Wohnung, seinen Haushalt. Und: Einen Job hat er auch. Als pädagogischer Helfer in einer Kita. Vermittelt vom Lernmobil, einer Bildungsstätte für Behinderte.
"Mir macht´s Spaß, dass man spontan mit Kindern umgehen kann. Und Kindern Sachen erklären kann. Die Kinder haben viele Fragen."
Dirk führt durch seine Wohnung. Er sammelt Windschutze für Mikrofone. Die hängen in einer Vitrine. Sein bestes Stück hat ihm die RBB-Intendantin persönlich geschickt.
Dirk Hoffmann mit einem Mikro und einem Windschutz
Dirk Hoffmann sammelt Windschützer © Thilo Schmidt

Jugendsünde bei der Feuerwehr

In seiner kleinen Wohnküche hängt ein Plakat von der Jugendfeuerwehr.
"Ich war mal früher in der Jugendfeuerwehr. In Kladow. Aber ich bin nach draußen geflogen wegen besonderer Sachen."
"Oh. Wegen besonderen Sachen? Weswegen kann man denn rausfliegen bei der Feuerwehr?"
"Mmmh. Wenn man wat anzündet, schon …"
"Wenn man was anzündet? Ach so, damit man was zu löschen hat?"
"Richtig, deswegen!"
Eine Jugendsünde halt. Aber es waren nur Mülleimer, die brannten.

In zwei Jahren zum Führerschein

Dirk ist jemand, bei dem "der Startblock 50 Meter hinter der Ziellinie stand", sagt sein Betreuer. Doch Dirk erkämpft sich im Laufe der Jahre seine kleinen Freiheiten. Irgendwann erzählt er, wollte er den Motorroller-Führerschein machen. Ausgerechnet er, den gelegentlich die Polizei nach Hause fuhr, weil er nicht wusste, wo in Berlin er sich gerade befand. Dirk musste zum Eignungstest.
"Eine Frage war: Kennen Sie sich mit einem Vorfahrtsschild aus? Da hab ich gesagt: So spontan ist total schlecht. Da hat der Typ gesagt: Ich erklär´ es ihnen. Das ist ein quadratisches Schild mit einem Spiegelei in der Mitte. Ja, sag ich! Da haben Sie recht! Die zweite Frage war: Nehmen Sie denn Drogen? Ich sag´: Ja. Nur Kaffee. Trink´ ich gerne."
Es hat zwar zwei Jahre gedauert, aber Dirk hat den Führerschein gemacht. Er fährt mit dem Motorroller zur Kita nach Charlottenburg, zu seinen Betreuern von der "Zukunftssicherung" oder einfach so herum.
Es funktioniert. Dirk wusste das. Es hat ihm nur kaum jemand zugetraut.
"Wenn ich ankomme, und möchte den Führerschein machen, dann gibt es Menschen, die sagen: Oh Gott, du kannst nicht schreiben und lesen. Lass das sein, du kannst nicht. Dann hab ich gesagt: Ich zeigs Euch mal, wie ich das machen tue! Und die waren auch am Ende sehr begeistert."

David Permantier (Hrsg.): "Wie ich wurde, wer ich bin", erhältlich beim Elternverein Zukunftssicherung Berlin e.V.