Tausende von bunten Fäden
Fünf große Themenkreise verwebt der meisterliche erste Band einer neuen "Geschichte der Welt": Die Erfindung moderner Staatlichkeit, die global agierenden Imperien, das Phänomen der Migration, die Warenketten der globalen Wirtschaft und transnationale Strömungen.
Was die große akademische Geschichtsschreibung von zeitloser Literatur wie "David Copperfield" und "Moby Dick" unterscheidet, ist ihr strukturbedingter Mangel an Empathie. Wer sich brennend für Geschichte interessiert, will im Grunde mehr erfahren, als dass dieser oder jener Herrscher, diese oder jene Sekte oder die Profitgier irgendeiner Gruppierung die historische Landkarte und die Machtverhältnisse auf ihr verändert und neu geprägt hat. Wer die möglichst wahrhaftige Schilderung historischer Fakten und die Empathie mit den vom historischen Prozess betroffenen Menschen aller Schichten miteinander verwoben sehen will, der kommt jetzt durch die beim Verlag C. H. Beck und Harvard University Press zeitgleich auf Englisch und Deutsch erscheinende sechsbändige "Geschichte der Welt" voll auf seine Kosten.
Der erste, 1125 Seiten umfassende Band mit dem Titel "1870-1945 – Weltmärkte und Weltkriege" liegt jetzt vor. In fünf Jahren soll die Reihe abgeschlossen sein. Vor 15 Jahren begannen die Planungen für das Konzept der Bände. In ihrem Beitrag über "Transnationale Strömungen in einer Welt, die zusammen rückt" bringt die Herausgeberin und Mitautorin Emily S. Rosenberg den neuen historiografischen Ansatz des Projekts mit diesem Satz auf den Punkt: "Im Zentrum stehen jene Strömungen, die geografische Grenzen überwinden."
Fünf große Themenkreise lotet der Band aus und verwebt sie miteinander: Die Erfindung moderner Staatlichkeit, die global agierenden Imperien, das Phänomen der Inneren und Äußeren Migration, die Warenketten der globalen Wirtschaft und die transnationalen Strömungen einer zusammenrückenden Welt. Da alle Einzelaspekte in ihrer Konvergenz und auch ihrer Divergenz zusammen gesehen werden, kann sich der Leser ein realistisches Bild machen von Prozessen, die sich zur gleichen Zeit an verschiedenen Teilen des Globus in ganz ähnlicher Weise, aber eben auch in vielerlei Abwandlungen ereignet haben. Durch dieses Verfahren rücken einem die Menschen aus der Mandschurei, aus Südchina, Japan, Korea, Mexiko, Argentinien, Brasilien, Australien, Neuseeland und den Fidji-Inseln ganz nahe – das Fremde schlägt so um in Vertrautheit und ermöglicht Empathie.
Dadurch, dass diese neue "Geschichte der Welt"den Fokus ihrer Untersuchungen auf die zentrale polyvalente Metapher der globalisierenden, gleichsam elektrischen – ihre Umfelder aufladenden – Strömungen richtet, befreit sie sich aus dem Korsett der auf separate Länder und Gebiete fixierten linearen Geschichtsschreibung. Durch die vielen anschaulichen, empathiegeladenen exemplarischen Details aus den Schicksalen von Abermillionen in die Migration getriebenen Menschen, durch die Veranschaulichung der menschenverachtenden Praxis der imperialen Machtausübung, der globalen Handelsströme und die Revolution der Kommunikationstechnologien jener Epoche wird den Lesern immer wieder klar gemacht, wie sich die gigantische Expansion der europäisch-nordamerikanischen Imperien und des japanischen Imperialismus jener Epoche auf die Frauen, Männer und Kinder ausgewirkt haben. Offiziell wurde die Sklaverei in jenem Zeitraum zwar abgeschafft, aber eben nur auf dem Papier.
Durch den Ansatz, der durchgehend die ungeschminkte historische Realität offenlegt – auch die skrupellose imperialistische Politik der Vereinigten Staaten – werden auch technologische Großtaten, die zu ihrer Zeit kritiklos gefeiert wurden, in ein anderes Licht gerückt. Wenn man erfährt, dass der Bau des Panamakanals zwischen 25.000 und 35.000 Menschenleben gekostet hat, dann verblasst der Glanz der Ingenieursleistung genauso wie bei der Information, dass der profitgierige belgische König Leopold (mit dem Placet der Vereinigten Staaten) in seiner Privatkolonie Kongo zehn Millionen Menschen umbringen ließ. Die sonst namenlos bleibenden Menschen, die in den Strudel historischer Prozesse geraten sind, waren, wie dieser Band zeigt, nicht nur Objekte der Geschichte, sondern auch Subjekte, die sich zur Wehr gesetzt und Strategien entwickelt haben, die den Kolonialismus und den Imperialismus schließlich überwanden.
Wer sich die nötige Zeit gönnt, dieses wahrhaft große Buch zu erkunden, fühlt sich am Ende wie geläutert. Die Autoren dieses Bandes haben tausende von bunten Fäden unter der Regie der Herausgeberin zu einen meisterlich komponierten Wandteppich verwoben, der unser Wissen über die Epoche unserer unmittelbaren Vorfahren enorm vertieft und nicht nur Respekt einflößt vor ihrem Überlebenswillen und ihren Überlebensstrategien, sondern – ganz dezent – uns auch hilft, die Fehlentwicklungen unserer Gegenwart schärfer zu diagnostizieren.
Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr
Akira Iriye und Jürgen Osterhammel (Hg.): Geschichte der Welt
Band V: "1870-1945 – Weltmärkte und Weltkriege", herausgegeben von Emily S. Rosenberg
C. H. Beck, München 2012
1125 Seiten mit 62 Abbildungen und 16 Karten, 48 Euro
Der erste, 1125 Seiten umfassende Band mit dem Titel "1870-1945 – Weltmärkte und Weltkriege" liegt jetzt vor. In fünf Jahren soll die Reihe abgeschlossen sein. Vor 15 Jahren begannen die Planungen für das Konzept der Bände. In ihrem Beitrag über "Transnationale Strömungen in einer Welt, die zusammen rückt" bringt die Herausgeberin und Mitautorin Emily S. Rosenberg den neuen historiografischen Ansatz des Projekts mit diesem Satz auf den Punkt: "Im Zentrum stehen jene Strömungen, die geografische Grenzen überwinden."
Fünf große Themenkreise lotet der Band aus und verwebt sie miteinander: Die Erfindung moderner Staatlichkeit, die global agierenden Imperien, das Phänomen der Inneren und Äußeren Migration, die Warenketten der globalen Wirtschaft und die transnationalen Strömungen einer zusammenrückenden Welt. Da alle Einzelaspekte in ihrer Konvergenz und auch ihrer Divergenz zusammen gesehen werden, kann sich der Leser ein realistisches Bild machen von Prozessen, die sich zur gleichen Zeit an verschiedenen Teilen des Globus in ganz ähnlicher Weise, aber eben auch in vielerlei Abwandlungen ereignet haben. Durch dieses Verfahren rücken einem die Menschen aus der Mandschurei, aus Südchina, Japan, Korea, Mexiko, Argentinien, Brasilien, Australien, Neuseeland und den Fidji-Inseln ganz nahe – das Fremde schlägt so um in Vertrautheit und ermöglicht Empathie.
Dadurch, dass diese neue "Geschichte der Welt"den Fokus ihrer Untersuchungen auf die zentrale polyvalente Metapher der globalisierenden, gleichsam elektrischen – ihre Umfelder aufladenden – Strömungen richtet, befreit sie sich aus dem Korsett der auf separate Länder und Gebiete fixierten linearen Geschichtsschreibung. Durch die vielen anschaulichen, empathiegeladenen exemplarischen Details aus den Schicksalen von Abermillionen in die Migration getriebenen Menschen, durch die Veranschaulichung der menschenverachtenden Praxis der imperialen Machtausübung, der globalen Handelsströme und die Revolution der Kommunikationstechnologien jener Epoche wird den Lesern immer wieder klar gemacht, wie sich die gigantische Expansion der europäisch-nordamerikanischen Imperien und des japanischen Imperialismus jener Epoche auf die Frauen, Männer und Kinder ausgewirkt haben. Offiziell wurde die Sklaverei in jenem Zeitraum zwar abgeschafft, aber eben nur auf dem Papier.
Durch den Ansatz, der durchgehend die ungeschminkte historische Realität offenlegt – auch die skrupellose imperialistische Politik der Vereinigten Staaten – werden auch technologische Großtaten, die zu ihrer Zeit kritiklos gefeiert wurden, in ein anderes Licht gerückt. Wenn man erfährt, dass der Bau des Panamakanals zwischen 25.000 und 35.000 Menschenleben gekostet hat, dann verblasst der Glanz der Ingenieursleistung genauso wie bei der Information, dass der profitgierige belgische König Leopold (mit dem Placet der Vereinigten Staaten) in seiner Privatkolonie Kongo zehn Millionen Menschen umbringen ließ. Die sonst namenlos bleibenden Menschen, die in den Strudel historischer Prozesse geraten sind, waren, wie dieser Band zeigt, nicht nur Objekte der Geschichte, sondern auch Subjekte, die sich zur Wehr gesetzt und Strategien entwickelt haben, die den Kolonialismus und den Imperialismus schließlich überwanden.
Wer sich die nötige Zeit gönnt, dieses wahrhaft große Buch zu erkunden, fühlt sich am Ende wie geläutert. Die Autoren dieses Bandes haben tausende von bunten Fäden unter der Regie der Herausgeberin zu einen meisterlich komponierten Wandteppich verwoben, der unser Wissen über die Epoche unserer unmittelbaren Vorfahren enorm vertieft und nicht nur Respekt einflößt vor ihrem Überlebenswillen und ihren Überlebensstrategien, sondern – ganz dezent – uns auch hilft, die Fehlentwicklungen unserer Gegenwart schärfer zu diagnostizieren.
Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr
Akira Iriye und Jürgen Osterhammel (Hg.): Geschichte der Welt
Band V: "1870-1945 – Weltmärkte und Weltkriege", herausgegeben von Emily S. Rosenberg
C. H. Beck, München 2012
1125 Seiten mit 62 Abbildungen und 16 Karten, 48 Euro