Sehnsuchtsblick nach Fernost

05.08.2010
Entzauberungen können furchtbar ernüchternd ausfallen. Was war das für eine Enttäuschung, als man hinter die Wunderwelt des Kaleidoskops kam, die aus ein paar bunten Glassteinen und mehreren Spiegeln bestand. Eine solche Radikalernüchterung müssen die Leser von Jürgen Osterhammels "Die Entzauberung Asiens" nicht fürchten.
Denn der Konstanzer Historiker, der für das bereits 1998 erschienene Buch 2001 den "Anna Krüger-Preis des Wissenschaftskollegs zu Berlin" erhielt, ist ein äußerst kluger und mit allen Wassern der Vernunft gewaschener Zauberer: was er entzaubert, erstrahlt hernach in schönstem Wissensglanz.

Diese Erfahrung konnten 2009 die zahlreichen Leser seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts ("Die Verwandlung der Welt") machen. Das voluminöse, mehr als 1.500 Seiten umfassende Buch, liegt inzwischen in der fünften Auflage vor. Von daher darf das Verlagskalkül als verständlich angesehen werden, "Die Entzauberung Asiens" – das Buch ist seit Jahren vergriffen – nach 12 Jahren erneut in einer preiswerten Paperback-Ausgabe auf den Markt zu bringen. Ergänzt wurde die Neuausgabe lediglich durch ein zehnseitiges Nachwort. Offensichtlich geht der Verlag davon aus, dass diejenigen, die sich für das 19. Jahrhundert interessierten, auch Gefallen am 18. Jahrhundert und im Besonderen daran haben könnten, wie Asien im europäischen Zeitalter der Aufklärung wahrgenommen wurde.

Osterhammel macht an überzeugenden Beispielen deutlich, dass das Zeitalter der Aufklärung keine ausschließlich eurozentristische Geistesbewegung war. Es ging den aufgeklärten Gelehrten des 18. Jahrhunderts um Wissenszuwachs, weshalb sie bestrebt waren, "Welt in sich aufzunehmen". Dazu war es notwendig, nach Asien zu reisen, um die Erfahrungen den europäischen Lesern zugänglich zu machen. Gerade die Kapitel, die den Schwierigkeiten des Reisens vorbehalten sind, machen sehr anschaulich, auf welches Abenteuer sich die Forscher einließen, wenn sie sich zum Beispiel im 18. Jahrhundert nach China aufmachten. Dass solche Reisen noch ohne imperiale Herrschaftsansprüche unternommen wurden, versteht Osterhammel überzeugend darzulegen, wobei er auch die Unterschiede zum 19. Jahrhundert benennt. Asien wird von den Aufklärern im 18. Jahrhundert nicht von oben herab betrachtet, sondern es besitzt einen im Vergleich zu Europa gleichrangigen Stellenwert.

Das 18. Jahrhundert, das Osterhammel untersucht, ist ein "langes" Jahrhundert. Er lässt es 1680 beginnen und 1830 enden. In diesen 150 Jahren unterliegt der Asiendiskurs Veränderungen. Hegel wird gegen Ende des Zeitraums den asiatischen Völkern eine "weltgeschichtliche Bedeutsamkeit" nur für die zurückliegenden Zeitalter zugestehen. Etwa zu der Zeit unterliegt auch das Reisen Veränderungen. Die Fremde wird anders wahrgenommen, seit es möglich ist, sich als gewerblich organisierter Tourist auf eine Fernreise zu begeben.

In dem hoch interessanten und unglaublich faktenreichen Buch gelingt es Osterhammel, das historische Material überzeugend zu bündeln und theoretisch zu verallgemeinern. Eine gelungene, sehr elegant und scharfsinnig vorgenommene Entzauberung, die durchaus zu verzaubern versteht.

Besprochen von Michael Opitz

Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert
C.H. Beck Verlag, München 2010
574 Seiten, 19,95 Euro