Tanzender Strudel der Zeit

Von Elisabeth Nehring · 03.10.2013
Anne Teresa De Keersmaeker gilt als ausgesprochen musikalische Choreographin. Neben frühbarocker, moderner klassischer und moderner Musik wendet sie sich immer wieder zeitgenössischen Werken zu.
So auch für ihre jüngste Produktion "Vortex Temporum", benannt nach der gleichnamigen Komposition des französischen Komponisten Gérard Grisey, einem Vertreter der Spektralmusik, das sie in der Bochumer Jahrhunderthalle zugleich musizieren und vertanzen lässt.

Spektralmusik fordert den Zuhörer heraus. Ihr geht es weder um mathematische noch um freie Kompositionsprinzipien, sondern allein um den Klang der Obertöne, die Klangfarbe und das Hörerlebnis, das daraus entsteht. "Vortex Temporum" klingt zu Beginn wie ein kalter Märztag: die Geigen erinnern an zerrissenes Vogelgezwitscher, es gibt ächzendes Krächzen, knackige Spitzen, Wellen verschiedener Klangfarben, -qualitäten und Temperaturen, langgezogene Töne und schnelle Akustik-Einspritzer, aufbrausende Läufe und plötzliche Stille – das dynamische, aber auch unregelmäßige Auf und Ab der Klänge erzeugt eine kontrastreiche, 'bewegte' Musik, doch ohne jeden motorischen, natürlichen Fluss.

Das famose Ictus-Ensemble führt anfangs ganz allein in die Musik ein, gibt schließlich im zweiten Teil die Bühne frei für die Tänzer, deren Bewegungen ebenfalls den Kompositionsprinzipien der Musik zu gehorchen scheinen. Ihre Bewegungen – weit ausholende Würfe, verschliffene Drehungen, aus- und verwrungene Oberkörper – leben von Kontrasten: Spitziges neben Flüssigem, Statisches neben Aktivem, Loslassen neben Halten.

Ganz in sich selbst verhaftet
Erst im dritten Teil kommen Musiker und Tänzer zusammen. Sehr vorsichtig! Zusammen sind sie eine Gruppe, die intensiv aufeinander hört und sensibel aufeinander reagiert. Die Musiker sitzen nicht etwa, sondern bewegen sich mit den Tänzern zusammen durch den Raum – wie auf einer gemeinsamen Kreisbahn durchmessen alle Künstler den Raum, allein, in Paaren, in Gruppen, aber niemals konform miteinander, immer individualisiert. Faszinierend zu erleben: Die Beobachtung der Bewegung verändert die Wahrnehmung der Töne – ein Kratzen der Celloseite wird begleitet von einem sich schnell um die eigene Achse drehenden Tänzer und aus dem flächigen Geräusch wird ein akustischer Wirbel. Der Tänzer als Fenster zur Musik!

‚Vortex Temporum’ von Anne Teresa De Keersmaeker und Ictus Ensemble ist ein Abend, der in seiner Kunst des musikalisch-tänzerischen Aufeinandertreffens in nichts über sich hinaus weisen will, der keine Bilder, Gefühle oder Assoziationen aufrufen möchte, sondern ganz in sich selbst verhaftet bleibt – ohne Hermetik. Ein Abend von spröder Schönheit auf höchstem Niveau.


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